Man muss dagegenhalten
Demokratie stellt sich Cevat anders vor
Beim Volksentscheid um das Tempelhofer Feld durfte jeder Sechste Berliner nicht mitstimmen, darunter der 66jährige Cevat Ünal. Er lebt zwar seit über 40 Jahren in Berlin, hat aber keinen deutschen Pass. Trotzdem geht er zur Wahlurne. Sybille Biermann hat ihn begleitet.
Von Sybille Biermann Mittwoch, 28.05.2014, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 01.06.2014, 23:48 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Mit entschlossener Miene tritt Cevat Ünal (66) an den Stand der Initiative „Wahlrecht für alle“, die an diesem Wahlwochenende auf dem Tempelhofer Feld in Berlin Neukölln ein symbolisches Wahllokal für all jene installiert hat, deren Stimmen nicht gezählt werden. Da der Volksentscheid um das umkämpfte Freizeitgebiet auf Landesebene verankert ist, können nur Inhaber eines deutschen Passes abstimmen. EU-Bürger und Drittstaatenangehörige sind ausgeschlossen – und somit jeder 6. Berliner. Gerade im Einzugsgebiet des Tempelhofer Feldes sind rund ein Drittel der Anwohner – und somit der direkt Betroffenen- nicht wahlberechtigt. 393 Stimmen hat die Initiative am Samstag vor der Wahl in ihrer Wahlurne gesammelt. Cevat Ünal war mit dabei.
23 Jahre alt war Herr Ünal, als er den Vertrag mit Siemens unterschrieb und aus seiner Heimatstadt Uşak nach Berlin zog. Das war im November 1972, erinnert er sich. Seine Verlobte Halide ließ er zurück und tauschte das Familienheim vorerst gegen eine Männerunterkunft am Richardplatz in Neukölln. Herr Ünal wirkt jung für einen 66jährigen und kniet sportlich in der Wiese nieder, die an den Stand der Initiative grenzt, während er erzählt. 1973 kam Halide ihm nach. Seither lebt das Ehepaar in Berlin, die meiste Zeit davon in Neukölln. Hier sind die Ünals Zuhause. Herr Ünal ist ein treuer Arbeitnehmer, wie viele seiner Generation. 6 Jahre Siemens, dann der Wechsel zu Moll Marzipan, als Techniker. Dort arbeitet er bis heute. „Ich war noch nie arbeitslos“, sagt er vehement. „42 Jahre lang habe ich in diesem Land Steuern gezahlt, aber wählen darf ich nicht.“
Zu jeder Wahl tritt er in ein Wahllokal und lässt sich auf der Liste suchen – wohlwissend dass er nicht darauf stehen wird. Einmal, erzählt er, ging eine engagierte Wahlhelferin mit ihm sogar bis zu ihrem Chef – ohne Erfolg, aber stolz machte ihn das trotzdem.
Die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen, war für die Ünals nie ein Thema. „Das war immer nur ein Papier für mich“, winkt er ab. Den Doppelpass fände er gut. Der entspräche seiner Lebensrealität, und der seiner Familie. So kommt es dass Herr Ünal mit seinen 66 Jahren nur einmal so richtig offiziell gewählt hat, als er zufällig zu Wahlzeiten in der Türkei war. In der Türkei konnte bis 2012 nur im Land und an den Grenzen gewählt werden. Eine Möglichkeit zur Briefwahl gab es nicht. In Deutschland, wo er und seine Frau ihren Lebensmittelpunkt haben, Steuern zahlen und nicht zuletzt ihren Sohn und zwei Enkel großzogen, bleibt ihm dieses Recht verwehrt. Und dennoch: „Ich gehe immer wählen!“, erzählt Ünal mit Schalk in den Augen. Zu jeder Wahl tritt er in ein Wahllokal und lässt sich auf der Liste suchen – wohlwissend dass er nicht darauf stehen wird. Einmal, erzählt er, ging eine engagierte Wahlhelferin mit ihm sogar bis zu ihrem Chef – ohne Erfolg, aber stolz machte ihn das trotzdem.
Der Volksentscheid zum Tempelhofer Feld liegt ihm besonders am Herzen. Seine Familie hat dort einen Garten, den die Enkel mit der Oma pflegen. Die Treffen der Initiative zum Erhalt des Tempelhofer Feldes hat Cevat Ünal regelmäßig besucht. Dass seine Stimme und die seiner Familie dennoch nicht zählen sollen, ist ihm unverständlich. „Ich erfülle meine Pflichten, aber meine Rechte bekomme ich nicht“, ärgert er sich. Demokratie stellt er sich anders vor. Und geht auch an diesem Wahlsonntag zur Urne. Wieder lässt er sich auf der Liste suchen und abweisen. Das Übliche. Auch diesmal protestiert Herr Ünal. Der Wahlhelfer tut zwar seine Sympathie kund, kann aber nichts für Herrn Ünal tun. Das weiß der längst, aber wenigstens haben so ein paar Wartende im Wahllokal mitgehört. „Man muss dagegenhalten. Das ist mir wichtig.“ Aktuell Gesellschaft
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Ein Artikel, den man jedem Deutschen Entscheidungsträger an den Badezimmerspiegel kleben sollte.
Wo, zum Donner, sehen unsere ‚Volksvertreter‘ eigentlich das Problem. Sind denn die Wählerstimmen des Rechten Spektrums so wichtig? Scheinbar ja.
In diesem Sinne
In 50 Jahren, wenn wir den ersten türkischstämmigen Bundeskanzler haben, wird man zurückblicken und sich wundern, wie es sein konnte, dass dieses zutiefst undemokratische Verhalten Normalität war in Deutschland.
…Die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen, war für die Ünals nie ein Thema. „Das war immer nur ein Papier für mich“, winkt er ab….Ich erfülle meine Pflichten, aber meine Rechte bekomme ich nicht…
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Selbst schuld. Wenn der Pass „nur ein Papier“ für ihn ist, weshalb hat er keins für sich beantragt? Wer den Pass hat, braucht nicht nur „Pflichten erfüllen“, er erhält auch seine Rechte. So ist das eben.
…. himmm … man mag es mehr oder weniger ungerecht empfinden (ggf. könnte man ja demokratisch die „echten“ und nicht nur die „gefühlten“ Staatsbürger dazu befragen bzw. entscheiden lassen!
… wie würde er aber als in T.C. ansässiger türkischer Staatsbürger reagieren, würde ein Deutscher (z.B. als Pensionär mit regelmäßiger/häufiger Anwesenheit + ggf. Immobilienbesitz) das gleiche Ansinnen haben!?
…. würde mich tatsächlich mal interessieren ob man das dort wohlwollend tolerieren oder ggf. sogar (aktiv) unterstützen würde …
Ich hoffe, dass die Verantwortlichen bald erkennen werden, dass diese Form der Diskriminierung einfach am Ziel vorbeischießt: Die Forderung nach mehr Integration einerseits – der Ausschluss aus dem Prozess der politischen Teilhabe andererseits, das kann nicht funktionieren. Eine Demokratie lebt von der Teilhabe des popolus. Ich wüsste nicht inwiefern unsere Demokratie dadurch Schaden nehmen könnte, dass sich jeder, der hier lebt und arbeitet an Wahlen beteiligt. Die jetztige Form der Demokratie ist gelebte Realitätsverweigerung.
„Die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen, war für die Ünals nie ein Thema. „Das war immer nur ein Papier für mich“, winkt er ab. Den Doppelpass fände er gut“
Ich frage mich manchmal wirklich, wieviel Frechheit man noch ertragen soll.
Wie fände er es denn, wenn ein Ausländer in der Türkei, bspw. ein Armenier oder Syrier selbiges über die türkische Staatsbürgerschaft sagen würde??
Er bestätigt mit diesem Satz voll und ganz die Kritik am Doppelpass: Das der erlangte deutsche Pass lediglich ein Instrument zur Wahrnehmung von Rechten ist, damit allerdings keinerlei Loyalität zu dem Land entsteht.
Wieviel er von dem Land hält in dem er seit über 40 Jahren lebt und in dem er für türkische Verhältnisse zu einigem Wohlstand gekommen ist, zeigt doch schon, dass die deutsche Staatsbürgerschaft für ihn nur unter Beibehaltung der türkischen Staatsbürgerschaft reizvoll ist.
Das Wahlrecht für hier lebende Nicht-Deutsche ist ja im Prinzip eine gute Idee, nur schießt man mit der Initiative „100%“ weit über das Ziel hinaus, wenn ernsthaft gefordert wird, dass jeder hier lebende Ausländer schon nach 3 Monaten Aufenthalt wahlberechtigt sein soll. So etwas gibt es in keinem Land der Welt, und so eine Forderung kann nicht ernsthaft diskutiert werden.
Die Sprache beherrschen und die Kultur des Gastlandes kennen sollte man schon, bevor man wählen kann.
@Freiburger
Sowas gibt es allerdings: In allen Mitgliedsländern der EU. Ziehe nach Portugal, melde Dich, nimm an kommunalen Wahlen teil. In Deutschland gilt das gleiche für alle EU-Bürger. Von Sprachkenntnissen ist keine Rede.
„Jeder Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, hat in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen“ (Art. 19, EG-Vertrag)
Im übrigen halte ich die Angst vor mangelnder Loyalität für krankhaft. Dann müssten Personen, die qua Geburt deutsche sind, auch einem Loyalitätstest unterzogen werden. Man kann sich der Loyalität nie sicher sein! Der deutsche Staat und die deutsche Gesellschaft können sie im Fall von Neubürgern höchstens durch Zeichen des Willkommens begünstigen. Das kommunale Wahlrecht und der Doppelpaß für nicht-EU-Bürger wären solche Zeichen.
@ Europäer
Das Argument der Loyalität wird bspw. dann ganz aktuell, wenn Deutschland bspw. in eine schwere Krise geraten würde. Der Doppelpassler – erst recht der mit einer türkischen Staatsbürgerschaft – wird dann ganz einfach in die Türkei abhauen.
Ich sage es mal ganz pathetisch: Eine Staatsbürgerschaft begründet auch immer eine Schicksalsgemeinschaft. Und die deutsche Staatsbürgerschaft hat dann für jemanden mit bspw. einem zweiten, türkischen Pass einen weniger verpflichtenden Charakter als für jemanden, der nur über diese deutsche Staatsbürgerschaft verfügt.
Diejenigen, die sagen eine doppelte Staatsbürgerschaft führt nur dazu, dass es dann eine Staatsbürgerschaft für’s Herz gibt und eine für die Tasche, werden doch von dem Mann nur bestätigt. Er will die deutsche Staatsbürgerschaft nur on-top. Wie kann man die deutsche Staatsbürgerschaft mehr herabsetzen, als sie ein „nur ein Stück Papier“ zu bezeichnen??
Ganz rational: Cevat Unal will die deutsche Staatsbürgerschaft nicht, also will er nicht zur Mehrheit dazugehören. Er will bleiben, was er immer schon war: Türke. Warum er dann hier wählen will, ist mir unverständlich. Und wie Max schon sagte: diese Aussage, dass die deutsche Staatsbürgerschaft nur ein Fetzen Papier ist, ist ein Schlag ins Gesicht eines jeden Deutschen. Er kann doch gerne in der Türkei wählen.