Zur geplanten Asylrechtsänderung
Wiederholte Missachtung der Menschenwürde
Die Bundesregierung ist dabei, das Asylbewerberleistungsgesetz den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts anzupassen. Prof. Claus Melter sieht in dem Gesetzesentwurf immer noch eklatante Verfassungsverstöße – sein Appell für eine menschenwürdige Asylpolitik und Praxis.
Von Claus Melter Freitag, 12.09.2014, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 15.09.2014, 17:07 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wird von der qua Geburt gegebenen Menschenwürde gesprochen. Menschenwürde ist also etwas, dass für alle Menschen gilt und was nicht abhängig von Eigenschaften, Fähigkeiten, Gruppenzugehörigkeiten oder individuellen Leistungen ist. Demgegenüber bestimmt Immanuel Kant die Würde des Menschen in Relation zur menschlichen Fähigkeit zur Vernunft 1. Diese Verknüpfung von Vernunftfähigkeit und Menschenwürde geht bei Kant einher in die Konstruktion von menschlichen “Rassen“, wofür er bereits von zeitgenössischen Wissenschaftlern und Kollegen massiv kritisiert wurde 2.
Diesen von ihm und anderen erfundenen „Rassen“ 3 schrieb er Eigenschaften wie „Zivilisiertheit“ oder „Wildheit“ zu und damit verbunden auch unterschiedliche Fähigkeiten zur Vernunft. Wenn Menschen die Fähigkeit zur Vernunft ganz oder teilweise abgesprochen wird, dann wird ihnen in der Logik von Kant auch das Menschsein ganz oder teils abgesprochen. Dass den „Vernünftigeren“ das Recht oder sogar die Pflicht 4 zugesprochen wird, andere zu beherrschen und zu „erziehen“, ist ein systematisches Prinzip europäischer Kolonialgeschichte, mit dem Unterwerfung, Vertreibung und Mord der kolonialisierenden europäischen Länder zu rechtfertigen angestrebt wurde.
Die Frage, wem Menschsein und Menschenwürde zugesprochen wurde, ist dabei von zentraler Bedeutung. So war die Vertreibung, Ermordung und Unterwerfung der Einheimischen in Nord- und Südamerika ebenso wie in Afrika sowie in asiatischen Ländern und in Australien vom Verständnis, dass die Einheimischen keine Menschen oder keine vollwertigen Menschen seien, begleitet. So gab es 1550 in Valladolid den Gerichtsprozess seitens Las Casas gegen die katholische Kirche, ob die Einheimischen in den Amerikas auch Ebenbilder Gottes und Menschen seien 5. Dies wurde vor einem Gericht in Spanien verhandelt. Politisch ging es somit um die Frage, ob die Unterwerfung, Ermordung und Vertreibung der Einheimischen legitim war oder nicht, da allen Beteiligten klar war, das eine derartige Behandlung gegenüber „Ebenbildern Gottes“, also Menschen, absolut unakzeptabel war. Rosa Amelia Plumelle Uribe macht die Differenz-Setzung sowohl in „Menschen“ und „Nicht-Menschen“ und in „Weiße“ und „Nicht-Weiße“, in „Europäer“ und „Nicht-Europäer“ als auch in „wertvollere Menschen“ und „weniger wertvollere Menschen“ gemeinsam mit einer systematischen Ungleichbehandlung der zu „Anderen Gemachten“ als ein systematisches und gewalttätiges Handlungsprinzip europäischer Geschichte aus 6.
In seinen Reden zum Kolonialismus schreibt Aime Cesaire über die sogenannte westliche Zivilisation, die untrennbar mit Kapitalismus, Kolonialismus und angeblicher Wissenschaftlichkeit verknüpft ist. „Eine Zivilisation, die sich unfähig zeigt, die Probleme zu lösen, die durch ihr Wirken entstanden ist, ist eine dekadente Zivilisation. Eine Zivilisation, die beschließt, vor den brennendsten Problemen die Augen zu verschließen, ist eine kranke Zivilisation. Eine Zivilisation, die mit ihren eigenen Grundsätzen ihr Spiel treibt, ist eine sterbende Zivilisation.“ 7 Wahrscheinlich sollte statt Zivilisation, die sich stets gegenüber dem „Natürlichen“ oder „Wilden“ als unterschiedlich und überlegen erfindet, „Gesellschaft“ gesagt werden. Und heute wird bestimmten nicht-reichen und nicht sofort wirtschaftlich extrem „verwertbaren“ Menschen mittels FRONTEX und europäischen und nationalen Asylgesetzen der Zutritt zur Festung Europa verwehrt. Das Recht auf Leben und Würde BESTIMMTER Menschen wird de facto verneint.
Wenn denn für Gesellschaften Prinzipien wie die Gleichheit vor dem Gesetz, die Freiheit von Willkürherrschaft und die Brüderlichkeit/ Schwesterlichkeit ebenso wie die Anerkennung der Würde ALLER Menschen als demokratisch und verteidigungswürdig gelten sollen, dann darf mit diesen Prinzipien kein Spiel und keine Willkür betrieben werden.
Um wieder konkreter ins Deutschland 2014 zu gelangen, kann auch an die Prinzipien christlicher Nächstenliebe erinnert werden, die sich die christlichen Parteien gerne auf ihre Fahnen schreiben, an die Gerechtigkeitsversprechen und den Wert der internationalen Solidarität bei der Sozialdemokratie oder die feministischen, antirassistischen und antidiskriminatorischen Utopien und Werte der Grünen sowie die sozialistischen Werte der Linken.
Und darüber hinaus sind alle Parteien der Verfassung der Bundesrepublik und der Achtung der Menschenwürde und seiner Nicht-Verletzung als höchstem Wert in der Verfassung verpflichtet. Was bedeutet diese Verpflichtung auf die Menschenwürde jedoch konkret? Und was bedeutet der Satz des Bundesverwaltungsgerichts, dass die Menschenwürde nicht durch migrationspolitische Absichten oder Regelungen eingeschränkt werden darf 8? Konkret bezog sich das Urteil darauf, dass die finanzielle Versorgung Asylsuchender für Essen, Kleidung und anderes dem als Existenzminimum für ein menschenwürdiges Leben von deutschen Staatsbürgern und gleichgestellten EU-Bürgern bestimmten Geldbetrag für alle Menschen entsprechen muss: Entweder ist etwas dem menschenwürdigem Existenzminimum entsprechend oder nicht. Und dies gilt für alle Menschen unabhängig von Herkunftsland, Staatsbürgerschaft und Aufenthaltstitel.
Leider benannte das Bundesverfassungsgericht nur diesen Aspekt und sprach nicht den Aspekt der Bewegungsfreiheit (der durch die Residenzpflicht im Asylverfahrensgesetz eingeschränkt wird) an, nicht das Recht auf Gesundheit und gesundheitliche Versorgung (laut Asylbewerberleistungsgesetz dürfen nur akute Krankheiten behandelt werden) und nicht das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz (im Asylverfahren werden allgemeine Verfahrens- und Widerspruchsrechte eingeschränkt).
Die zuletzt genannten Punkte sollen in der Änderung des Asylverfahrensgesetzes fortgeschrieben werden, obwohl sie dem Grundsatz der Menschenwürde und des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts widersprechen, wonach migrationspolitische Entscheidungen und Regelungen die Menschenwürde nicht verletzen dürfen.
Die vom Bundestag verabschiedeten Regelungen im Asylverfahrensgesetz und Asylbewerberleistungsgesetz, die am 19. September 2014 vom Bundesrat abgestimmt werden, widersprechen jedoch dem Achtungsgebot der Menschenwürde 9 und verletzen den obersten Wert der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland: die Menschenwürde. Dies gilt auch für die geplante Inhaftierung illegalisiert eingereister Personen. Flucht ist kein Verbrechen. Die Parteien, die dem Gesetz zustimmen handeln verfassungswidrig.
Alle Personen und Parteien sind den Werten der Menschenrechte und der Menschenwürde verpflichtet. Somit kann und darf es gemäß der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und des Achtungsgebotes der Würde des Menschen nur um die Forderungen der kompletten Abschaffung des Asylbewerberleistungsrechts, der kompletten Abschaffung der verfassungswidrigen Regelung der sogenannten „sicheren Drittstaaten“ und um die Forderung einer Neugestaltung der Migrationspolitik im Sinne der Wahrung von Menschenrechten und der Achtung von Menschenwürde gehen!
- Kant unterscheidet Menschen entlang dieses Kriterium von Tieren und begründet so die Höherwertigkeit von Menschen gegenüber anderen Lebewesen
- vgl. Hund 2000; Bernasconi 2011; Klatt 2010
- Die Idee der Existenz unterschiedlicher menschlicher „Rassen“ ist vielfach wissenschaftlich wiederlegt worden: Alle Menschen stammen aus Afrika und es gibt nur eine „Menschenrasse“: die Menschen
- Festgehalten im Kolonialismus legitimierenden Ausdruck: „The white mens burden“
- vgl. Todorov 1985
- Plumelle-Uribe 2004
- Cesaire 1950/2010
- vgl. Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Dezember 2012; vgl. Pro Asyl 2014
- vgl. Bielefeld 2008
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Es war eben von jeher so (seit der Proklamation der Menschenrechte), dass das nationale Staatsbürgerrecht nicht mit den Prinzipien der Gleichheit und der Menschenrechte in Einklang zu bringen war. Jedes s.g. Ausländerrecht in welchem Land auch immer läuft diesen Prinzipien zuwider und enthält meistens Grauzonen, wie sie typisch für totalitäre Staaten sind.