Zwischen Angst und Dankbarkeit
Syrische Flüchtlinge versuchen verzweifelt, ihre Angehörigen nach Deutschland zu retten
Rund 80.000 Syrer in Deutschland haben Aufnahmeanträge für Verwandte aus den Krisengebieten gestellt. Mit den bisherigen Aufnahmeprogrammen können aber nur 28.000 Flüchtlinge nach Deutschland kommen - und das ist nur ein Teil des Problems.
Von Martina Schwager Mittwoch, 17.12.2014, 8:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 17.12.2014, 17:47 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Auf seinem Schoß liegt eine Bibel, gedruckt in in arabischer Schrift. Sie ist eines der wenigen Dinge, die Ibrahim M. aus seiner Heimat mitgebracht hat, aus al-Hasaka in Syrien. Liebevoll streicht der 81-jährige Christ mit den Händen über den Einband. „In Syrien gab es für uns kein Leben mehr“, sagt seine Frau Jeanette (74). Zuletzt hatten IS-Terroristen gedroht, die Enkel zu holen. Die Großeltern sind dankbar, dass die deutschen Behörden ihnen und dem ältesten Sohn David (50) mit Familie die Einreise erlaubt haben. Ihre Tochter Noha (54), die bereits seit 20 Jahren in Deutschland lebt, hat alle Hürden überwunden und die Verwandten bei sich aufgenommen.
Aber es bleiben die Sorgen um die, die noch in Syrien sind: Jeanette und Ibrahim M.s zweitältester Sohn Jack (49) ist vor einem Jahr unter großen Strapazen über die Türkei, das Mittelmeer und Griechenland bis nach Deutschland geflohen und als Asylbewerber eingereist. Seine Frau, die beiden erwachsenen Söhne und die 15-jährige Tochter musste er in Homs zurücklassen. Er hoffte, sie könnten auf dem Weg der Familienzusammenführung nachkommen.
Laut Flüchtlingsorganisation „Pro Asyl“ haben rund 80.000 Syrer in Deutschland Aufnahmeanträge für Verwandte aus den Krisengebieten gestellt. Mit den bisherigen Aufnahmeprogrammen des Bundes und der Länder können aber nur rund 28.000 Flüchtlinge nach Deutschland kommen, rund 20.000 davon hätten hier Angehörige.
Für die Familie M. waren bisher alle Bemühungen um Schwiegertochter und Enkel in Homs vergeblich. Vor allem für die 20 und 24 Jahre alten Söhne dürfte eine Einreisegenehmigung schwierig werden, sagt der Osnabrücker Rechtsanwalt und Experte für Migrationsrecht, Andreas Neuhoff. Nur minderjährige Kinder fallen unter die Regel der Familienzusammenführung. Mutter und Tochter aber wollen ohne die beiden nicht gehen.
„Meinem Bruder Jack geht es sehr schlecht. Er hat Alpträume, ist depressiv, weint oft aus Angst um seine Familie“, erzählt Noha. Die Listen für Kontingentflüchtlinge seien voll, habe man ihnen signalisiert.
Das Bundesinnenministerium widerspricht. Die Aufnahmeprogramme des Bundes und der Länder seien noch nicht abgeschlossen, sagt Sprecher Harald Neymanns. Gerade die Verwandten außerhalb der Kernfamilie würden dabei besonders berücksichtigt. Die sogenannte Kernfamilie – Eheleute und minderjährige Kinder – könne über den klassischen Fall der Familienzusammenführung nach Deutschland einreisen. Man sehe in diesen Fällen sogar vom Sprachnachweis ab.
Eingebettet in eine gesamteuropäische Hilfsaktion sei aber auch ein neues humanitäres Aufnahmeprogramm des Bundes „für die Zukunft denkbar“, meint der Sprecher. Bernd Mesovic, stellvertretender Geschäftsführer von „Pro Asyl“, empfindet diese Ankündigung als Hohn. Deutschland habe zwar im Industriestaaten-Vergleich die meisten Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Mit weiteren Zusagen wolle die Regierung nun aber offenbar auf die Bereitschaft anderer Staaten warten.
Die Syrienkonferenz des Flüchtlingshilfswerks UNHCR am Dienstag ist für Pro Asyl eine herbe Enttäuschung. 36 westliche Staaten hätten zugesagt, insgesamt 38.000 zusätzliche Plätze zur Verfügung zu stellen, während Jordanien, Libanon, die Türkei und der Irak derzeit drei Millionen Flüchtlinge beherbergten: „Deutlicher kann das Versagen der westlichen Wertegemeinschaft nicht sein.“ Mesovic fordert, allen Syrern mit verwandtschaftlichen Beziehungen nach Deutschland generell die Einreise zu gestatten.
Dass Noha wenigstens ihre Eltern und Bruder David mit Familie sicher in die Arme schließen konnte, hat sie ihrer Beharrlichkeit und der Hilfe von deutschen Freunden zu verdanken. Sie mussten eine Verpflichtungserklärung abgeben, dass sie für Wohnung und Lebensunterhalt ihrer sechs Verwandten aufkommen. „Aber sehr lange können wir das nicht leisten.“ Laut „Pro Asyl“ hat das bereits viele in Deutschland lebende Unterstützer in die Privatinsolvenz getrieben.
Vor allem um die Gesundheit ihres Bruders David, der in Syrien noch vor kurzem inhaftiert war und gefoltert wurde, macht Noha sich Sorgen. Die Frage der Krankenversicherung habe sie noch nicht klären können, sagt sie. Laut Innenministerium übernehmen mittlerweile alle Bundesländer die Gesundheitskosten der Flüchtlinge. Doch selbst für die seit Jahren hier lebenden Syrer ist es offenbar schwer, alle Regelungen und Gesetze zu durchschauen.
Die großen bürokratischen Hürden der verschiedenen Aufnahmeprogramme beklagt auch Mesovic. Die Telefonberatung von „Pro Asyl“ musste deswegen personell aufgestockt werden. Ein Anwalt hat Familie M. jetzt zunächst geraten, einen Asylantrag zu stellen. Doch auch dessen Bearbeitung würde mindestens zwei bis drei Monate dauern.
Trotz all dieser Unsicherheiten sind Jeanette und Ibrahim M. dankbar, dass sie in diesem Jahr wieder ein richtiges Weihnachtsfest feiern können. Seit Beginn des Bürgerkrieges 2011 wurde es in al-Hasaka immer schwieriger, den christlichen Glauben öffentlich zu leben. Auch wirtschaftlich ging es der einst wohlhabenden Familie, die mehrere Lebensmittelgeschäfte besaß, immer schlechter.
„Im vergangenen Jahr haben wir uns mit wenigen verbliebenen Freunden zu Hause auf den Teppich gesetzt und ein paar Erdnüsse gegessen“, erzählt die Großmutter und Tränen treten in ihre Augen. Dann breitet sie die Arme aus, als wolle sie alle und alles umarmen: „Hier ist es so schön und ordentlich und wir haben Strom, Wasser und ein Dach über dem Kopf.“ Aktuell Gesellschaft
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