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Chillen mit Schiller

Von Brennpunktschulen und Bildungsleuchttürmen

Seit dem Hilferuf aus der Rütli-Schule tut sich etwas in der Berliner Schullandschaft: Brennpunktschulen werden zu Bildungsleuchttürmen. Ein Besuch vor Ort – von Gabriele Voßkühler.

Von Gabriele Voßkühler Donnerstag, 18.12.2014, 8:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Samstag, 03.01.2015, 22:47 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Wie sie da stehen im Kreis, in engen Jeans und Schlabberpulli in einem dunklen Neuköllner Kellerraum. Sie schauen konzentriert auf die junge Frau in ihrer Mitte. Man könnte meinen, hier handele es sich um einen Entspannungskurs: Abschalten, entspannen, runterkommen vom Schulalltag. Grund genug hätten sie ja: Rabiya, Eray, Recep, Tobias, Hasan, Jasmin, Romana, Luisa und Berrak, alle um die 15, gehen in die Liebig-Schule, eine der sogenannten Problemschulen im Berliner Bezirk Neukölln. Gewaltbereite Schüler, Schulschwänzer und Eltern, die ihre Kinder alleine lassen mit dem Thema Schule, gehören hier zum Tagesgeschäft.

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Doch an diesem grauen Mittwochmittag Ende November geht es den Jungen und Mädchen nicht darum, sich zu entspannen. Ganz im Gegenteil: Konzentration ist gefragt. Die Schüler gehören zum Literaturclub der Liebig-Schule und rezitieren Friedrich Schiller. Um genauer zu sein, eine seiner bekanntesten Balladen, den „Handschuh“: „Vor seinem Löwengarten, das Kampfspiel zu erwarten, saß König Franz, und um ihn die Großen der Krone“, sprechen sie im Chor.

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Die junge braunhaarige Frau in ihrer Mitte ist Theaterpädagogin und gibt ihnen Tipps für das Auswendiglernen: „Es ist leichter den Text auswendigzulernen, wenn ihr bei jeder Zeile eine bestimmte Bewegung oder Geste macht. So zum Beispiel.“ Sie tritt einen Schritt nach vorne und macht eine einladende Geste mit der rechten Hand. Auf einem Stuhl dicht bei der Gruppe sitzt die 44-jährige Anja Chrzanowski, Deutschlehrerin an der Liebig-Schule und Gründerin des Literaturclubs.

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Chrzanowski ist eine rundliche Frau mit rosiger Haut und munteren Augen. Die glänzen vor Stolz, wenn sie von „ihren“ Jungen und Mädchen spricht. Der Literaturclub ist Chrzanowskis “Baby“ und hinter den mittlerweile fast 40 Mitgliedern steht sie bedingungslos: „Auf meine Leute lass ich nichts kommen.“ sagt Chrzanowski. In Zweiergruppen lesen „ihre“ Schüler einmal pro Woche in Krankenhäusern, Seniorenheimen oder Kindergärten vor. Den Club gibt es seit sechs Jahren, und mittlerweile ist er mit Auszeichnungen regelrecht überhäuft worden.

Chrzanowskis Literaturclub ist ein Paradebeispiel dafür, wie viel persönliches Engagement doch ändern kann, auch an einer Schule wie der Liebig-Schule. Und das Projekt steht für die Aufbruchstimmung, die sich derzeit in einigen Berliner Brennpunktschulen breit macht: Die Dinge sollen besser werden. Gelder fließen, endlich. Seit Februar 2014 erhalten Berliner Schulen mit einem hohen Anteil an Kindern aus armen Familien bis zu 100.000 Euro extra im Jahr.

Das Campus Rütli-Modell

Mit einer anderen Schule in Neukölln, der Rütli-Schule, und dem Hilferuf ihrer Rektorin fing 2006 alles an: Das Verhalten der Schüler im Unterricht sei geprägt durch „totale Ablehnung des Unterrichtsstoffes“ und „menschenverachtendes Auftreten“, schrieb die Rektorin damals in ihrem Hilferuf an den Berliner Senat.

Besucht man die Rütli-Schule an ihrem „Tag der offenen Tür“ heute, so glaubt man seinen Augen kaum: Hochwertige Mikroskope, ein großer Computersaal, ein modernes Chemielabor, Instrumentenklassen. Im Sommer hat der erste Abiturjahrgang die Schule verlasen. In Berlin ist die Rütli-Schule so etwas wie eine Berühmtheit. Und fast als wären sich Schüler und Lehrer dieser Berühmtheit bewusst, wird an diesem Tag viel gelächelt: Man ist stolz auf sich. Auch wenn das Treppenhaus einen neuen Anstrich gebrauchen könnte, so hat sich doch ganz offensichtlich vieles geändert seit dem „Brandbrief“ von 2006. Den Campus Rütli, wie die einstige Skandalschule heute heißt, nennen viele jetzt einen Bildungsleuchtturm.

Auf dem Weg zum Bildungsleuchtturm

Zurück zu Anja Chrzanowskis Literaturclub und der Liebig-Schule im südlichen Neukölln: Zwischen sechziger Jahre-Hochhäusern in Pastellfarben und Einfamilienhäusern hinter aufgeräumten Vorgärten entsteht hier der „Campus Efeuweg“. Angestrebtes Ziel: Eine Gemeinschaftsschule von der 1. bis zur 10. Klasse mit direktem Übergang in berufliche Ausbildungsgänge oder eine angeschlossene gymnasiale Oberstufe.

Im neuen Eingangsbereich der Liebig-Schule steht ein Schild: In Zukunft solle dies ein „Ort des Ankommens, Verweilens und Auseinandergehens“ werden, heißt es da. Die beiden Bagger hinter dem Schild erinnern daran, dass die Liebig-Schule eine Baustelle ist. Eine „Bildungslandschaft“ soll hier entstehen. Im alten Eingangsbereich der Schule sitzen zur gleichen Zeit zwei Männer in schwarzer Uniform an einem kleinen Tisch und kontrollieren die ankommenden Jungen und Mädchen. Sie sollen dafür sorgen, dass “Probleme“ draußen bleiben.

Die Schule hat schwierige Zeiten hinter sich. „Letztes Jahr waren unsere Lehrer plötzlich verschwunden und meine Klasse wurde auf die Parallelklassen verteilt“, erzählt die 15-jährige Yasmin, ein Mädchen mit langen dunklen Haaren, kajalschwarzen Augenrändern und einem Pony, der ihr bis zu den Augen reicht. Heute sieht die Situation zum Glück anders aus. Das Lehrerkollegium hat sich deutlich verjüngt, neue Lehrer sind an die Schule gekommen.

Der 29-jährige Erkan Karakaya ist einer von ihnen. Der junge Deutsch-Türke kommt aus Baden-Württemberg und ist seit letztem Sommer an der Liebig-Schule. Auf dem Weg in sein Klassenzimmer erzählt der junge Mann mit Brille, Leinenschal und wachem Blick von der eigenen Schulzeit: „Mein Klassenlehrer in der Hauptschule hat mir immer gesagt: ‚Hier gehörst du nicht her‘, und hat mir Zusatzaufgaben gegeben. Nur deshalb habe ich studiert.“ Heute ist Karakaya selber Klassenlehrer, Deutsch und Technik unterrichtet er.

Etwas schleppend beginnt der Schultag in Karakayas Klasse, der 10d, heute. Ein paar Stühle bleiben unbesetzt. Seitdem man das Zeitstrukturmodell an der Schule geändert hat, fängt der Fachunterricht später an. In der „Beginn-Stunde“ sollen die Schüler erst mal ankommen, Zeit mit der Klasse und dem Klassenlehrer haben. In der 10d geht es heute um organisatorische Fragen: Weihnachtsfeier, Kurswahl. „Manchmal lesen wir in der Beginn-Stunde auch einfach Zeitung. Das kommt im Alltag der Schüler sonst nämlich überhaupt nicht vor“, sagt Erkan Karakaya.

Das Klassenzimmer der 10d wirkt freundlich: Hellgelbe Wände, grüne Vorhänge und Pflanzen vor den Fenstern. Die 15-jährige Yasmin erinnert sich an früher: „Vor zwei Jahren haben wir es nicht mehr ausgehalten, wie das hier aussah. Die Vorhänge haben wir dann selber genäht und die Wände selber gestrichen.“ Sich vorzustellen, wie es im „Campus Efeuweg“ einmal sein wird, wenn alles fertig ist, fällt ihr allerdings schwer: „Wir wissen nicht, wie das hier aussehen wird. Wir sind dann ja nicht mehr hier.“ Aktuell Feuilleton

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