Rezension zum Wochenende
Schantall, tu ma die Omma prost sagen!
Kai Twilfer, Sophie Seeberg und Philipp Möller präsentieren den Lesern mit ihren Geschichten aus dem Alltag unerschrockener Sozialarbeiter, Lehrer und Familienpsychologen das schriftliche Pendant zu emotionalen Reality-Shows. Witzig und raffiniert erzählt machen sie den Habitus der Unterschicht zu einem Phänomen und animieren die Menschen dazu, mal wieder ein Buch in die Hand zu nehmen.
Von Rukiye Cankıran Freitag, 13.02.2015, 8:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 15.02.2015, 18:32 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Reality-TV, Pseudo-Doku-Soaps oder Casting-Shows präsentieren immer hemmungslosere und radikalere Unterhaltung. Allen voran die Privatsender. Wie hieß doch gleich die Kuppelshow, in der sich splitterfasernacktes Männlein und Weiblein am Strand kennenlernen? Jegliche Grenzen des guten Geschmacks scheinen aufgehoben. Ist das noch Unterhaltung, schon Pornographie oder nur noch niveaulos? Aber auch der Bildungsauftrag der öffentlich-rechtlichen scheint in Vergessenheit zu geraten. Ist uns Menschen noch zu helfen oder wie Soziologen uns anhand von empirischen Untersuchungen veranschaulichen, ist diese Entwicklung einfach nur der Zeitgeist?
Jeder wird heutzutage irgendwie zu einer öffentlichen Person, und sei es nur über Facebook, twitter und instagram. Die neuen Stars sind YouTuber, die einfach nur endlos über ihren Alltag berichten und x-y-z-Promis, die nichts können und die kein Mensch kennt, die aber allabendlich TV-Shows beherrschen. Die Alternativen sind Sendungen über Shoppen, Kochen oder spektakuläre Gerichtsshows. Sollte man da nicht lieber den Fernseher in den Keller stellen, ein gutes Buch nehmen und sich zurückziehen, um wenigstens noch anstandshalber ein Restniveau an Bildung und Erziehung zu bewahren? Denn dieses „Unterschichtfernsehen“ ist wirklich unerträglich, oder? Vor allem wenn man Kinder hat, sollte man mit gutem Beispiel vorangehen.
Für alle diejenigen habe ich jede Menge guter Buchtipps (schmunzel). Es gibt in den letzten Jahren einen unaufhaltbaren Trend an guter Literatur, die in jedes Regal gehört (grins). Die Niederungen und Tiefpunkte gesellschaftlichen Geschehens, sei es nun in der Schule, im Beruf oder im Alltag, kann man schwarz auf weiß nachlesen. Unerschrockene Sozialarbeiter, Lehrer und Familienpsychologen haben neben ihrer harten Arbeit tatsächlich Standardwerke verfasst, die sogar in vielen Supermärkten zu finden sind. Ich habe fast alle gelesen und muss an dieser Stelle ehrlich gestehen, dass sie wirklich gelungen sind.
Besonders Kai Twilfer mit „Schantall, tu ma die Omma winken!„ und „Schantall, tu ma die Omma prost sagen!„ sind mir ans Herz gewachsen. Witzig, charmant und frech, einfach erfrischend, besonders zu empfehlen denjenigen, die lange nicht mehr gelacht haben. Die Familie Pröllmann ist einfach knuddelig: Vadder und Mudder Pröllmann, Schantall (auch Mutter und Hausfrau), Tschastin (Sohn) sind so ungewollt komisch, das sie Kultstatus erreichen. Der Familiensozialarbeiter beschreibt „die Dynamik innerhalb dieses personenreichen Klans“ mit dem „eines Wolfrudels“. „Gestreunt wurde ebenso wie gefuttert meist in der Gruppe, aber trotzdem kämpfte jedes Rudelmitglied für sich, um die Position im Rudel und Revier möglichst zu verbessern“.
Dieses bildungsferne Milieu beschreibt Sozialarbeiter Jochen so: „Ich möchte hier nicht wieder das allseits beliebte, aber oft ungerechtfertigte Klischee des verlockenden, horrenden Kindergeldes auf die Fahne malen, aber die Anzahl der in die Welt gesetzten Kinder in Familien wie die Pröllmanns steigt in vielen Fällen proportional zur fallenden Quotientenkurve des Intellekts.“ Ja, wie beruhigend, wenn man sich von dieser Unterschicht distanzieren kann (egal ob mit oder ohne Migrationshintergrund).
Besonders interessant wird es, als Schantall durch Heirat der gesellschaftliche Aufstieg gelingt, von dem so viele Menschen träumen. Schantall zieht nicht nur in eine schickere Wohngegend, sie erlebt einen unvergesslichen Urlaub in Westerland – dem Urlaubsparadies der deutschen Elite – mit einem Hauch von „Schantall No. 2 Parfeng“ und jeder Menge Alkohol. Na denn mal Prost! Der Leser wird nicht nur mitgerissen in Schantalls Abenteuer, er möchte auch wissen, wie es weitergeht mit ihr. Wir warten also auf das nächste Buch. Aktuell Rezension
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Liebes Migazin Team,
ich schätze an Ihren Beiträgen Ihren kritischen Blick auf gesellschaftliche und politische Phänomene. Deshalb bin ich entsetzt, wie dieser Artikel Bücher empfehlen kann, die vor Klassismus nur so strotzen und ein Beispiel für gesellschaftliche Distinktionsbestrebungen sind.
J.Peters
Ich finde es ein wenig problematisch, Bücher von Sophie Seeberg und Herrn Möller, die ja den im Buch beschriebenen Beruf tatsächlich ausgeübt haben, mit den rein fiktiven Werken von Twilfer, vom Beruf WERBE-Spezialist, in einem Beitrag gegenüber zu stellen. Sieht man mal davon ab, dass Twilfers Werk in meinen Augen wirklich RTL-Nachmittagsniveau und genauso viele Vorurteile hat, so ist es immer noch kein Erfahrungsbericht sondern einfach nur ausgedacht. Dieser Mann hat nie als Sozialarbeiter gearbeitet und auch die darin erzählten Geschichten würden so zum Teil niemals von einem Sozialarbeiter miterlebt werden, weil er in solchen Situationen einfach nicht anwesend ist und eine Familie nicht rund um die Uhr bei allem begleitet.
Dahingegen versuchen Seeberg und Möller tatsächlich einen echten Einblick in ihre Berufswelt zu ermöglichen. Ich kann mich nicht mehr genau an Möllers erstes Buch erinnern, das zweite habe ich noch nicht gelesen, aber wenn ich mich recht erinnere, hatte auch er versucht, mit einigen Vorurteilen aufzuräumen. Sophie Seeberg macht das in jedem Fall und zeigt dabei, dass auch sie als Familienpsychologin nur ein Mensch ist. Sie geht selbstreflektiert ans Werk und versucht, ohne Vorurteile die Situationen zu beschreiben, die sie erlebt hat. Natürlich sind die manchmal auch bizarr und damit irgendwie humorvoll, aber darum geht es ihr nicht vorrangig. Damit steht sie im krassen Widerspruch zu Twilfer.
Ich hätte mir jedenfalls gewünscht, dass beide nicht mit einander in Verbindung gebracht werden würden, weil Herr Twilfer meiner Meinung nach dann dafür sorgt, dass auch Frau Seebergs Buch in einem schlechten Licht da steht. Dabei war ihr erstes Buch es, was mich mit dem Genre der eigentlichen Nonfiction, für das ich Twilfers Buch auch zunächst gehalten hatte, wieder versöhnt hat. Weil sie wirklich gut und einfühlsam schreibt, während ich Twilfer ehrlich gesagt ganz gern zerrissen hätte.
Das Niveau, das hier beschrieben wird, entspricht in etwas weniger krasser Form durchaus dem unserer Medienleute und Politiker. Ich sage nur: A.D.!