Krokodilstränen für Aylan Kurdi
Dieser Verlogenheit muss entschieden widersprochen werden
Das Foto ging um die Welt. Das Bild der Kinderleiche von Aylan Kurdi. Es steht symbolhaft für die egoistische und verlogene Machtpolitik in Europa und die aktuelle Teilung der Welt. Was wir brauchen ist ein grundlegender Sinneswandel.
Von Ramazan Avcı Initiative Samstag, 05.09.2015, 10:56 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 07.09.2015, 21:01 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
In Europa sind viele Menschen vom Foto des Leichnams des ertrunkenen Flüchtlingskindes Aylan erschüttert und emotional aufgewühlt worden. Der dreijährige syrische Kurde Aylan Kurdi liegt tot am Strand der türkischen Stadt Bodrum. Auf dem Weg nach Europa ertrunken. Die Familie wollte ursprünglich zu Verwandten nach Kanada ziehen, bekam aber kein Visum. Als das Schlepperboot kenterte, starben auch seine Mutter und sein fünfjähriger Bruder, nur der Vater Abdullah überlebte. Jetzt sind die drei in ihrer nordsyrischen Heimatstadt Kobane beigesetzt worden.
Die schwedische Außenministerin Margot Wallström brach in einer TV-Sendung in Tränen aus. Sie sagte, sie empfinde Wut, dass so etwas passiert und dass das weitergeht. Der britische Premier Cameron schob die Verantwortung für den Tod des Kindes auf andere. Während er Flüchtlinge nicht über den Ärmelkanal oder durch den Eurotunnel passieren lässt und selbst den Tod von Menschen tagtäglich verantwortet, kann er so seinen Anteil an dem Tod des Kindes verdrängen. Es ist immer sehr einfach. Wir sind die Guten. Entweder sind die skrupellosen Schlepper oder Diktatoren für den Tod verantwortlich. Europa hingegen wäscht seine Hand in Unschuld.
Dieser Verlogenheit von Camereon und der anderen europäischen Machthaber muss entschieden widersprochen werden. Diktatoren mögen die Fluchtursache sein. Den Tod von Aylan verantwortet die europäische Flüchtlingspolitik.
Über 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Wenn in Europa vom „Flüchtlingsproblem“ die Rede ist, so sind die Flüchtlinge als Problem gemeint. Nicht die Flucht ist das Problem, sondern der Flüchtende.
Es geht um das Überleben von Millionen Menschen. Die Flüchtenden sterben an unseren Stränden und auf unseren Straßen und es ist nicht mehr möglich, dies zu verdrängen. Als wenn die Flüchtenden, wie in dem im Jahre 1990 gedrehten Film: „Der Marsch„, zum Ausdruck bringen wollten, wenigstens sterben wir vor euren Augen.
Solange das ökonomische Ungleichgewicht auf der Welt fortwirkt, wird es Vertreibung, Flucht und Migration geben. Die 80 reichsten Personen der Erde kommen auf ein addiertes Vermögen von 1,9 Billionen US-Dollar. Das ist ein Drittel mehr als noch vor vier Jahren. Das reichste (ein) Prozent der Weltbevölkerung besitzt fast die Hälfte allen Vermögens, 48 Prozent. – 99 Prozent der Weltbevölkerung – teilten sich die übrigen 52 Prozent.
Die Flüchtlingszahlen, sind auch Folge dessen, was dieser ökonomische Irrsinn anrichtet. Wenn die ökonomischen Interessen es verlangen, sind Geostrategen an erster Stelle, diese militärisch durchzusetzen. So verwundert es nicht, dass die deutsche Marine vor den Küsten Libyens im Einsatz ist, mit dem angeblichen Ziel, Flüchtlinge im Mittelmeer vor dem Ertrinken zu retten. Ausnahmsweise mag dies in der Öffentlichkeit den Einsatz der Marine sympathisch erscheinen lassen, wenn nicht schon technisch, strategisch und völkerrechtlich daran gearbeitet werden würde, die Küstenkontrolle zu übernehmen, um gar keine Flucht mehr zu ermöglichen. Die Kosten des Marine Einsatzes betragen 37 Mio EUR. Eine Fährverbindung zwischen Libyen und Italien wäre deutlich günstiger zu haben, wenn es um den Einsatz für Menschenleben ginge.
Keine Regierung, keine Herrschaft und keine Festung haben je vermocht, Flucht-und Migrationsströme zu kontrollieren. Das wird auch in Zukunft nicht der Fall sein. Die technische Ausrüstung der Grenzkontrolle wird die Zahl der Toten nur höher treiben. Es werden wieder Krokodilstränen fließen.
Laut UN-Angaben sind im ersten Halbjahr dieses Jahres 190.000 Menschen über das Mittelmeer nach Europa geflohen. Es gab dabei circa Zweitausend registrierte Todesfälle. Die Dunkelziffer ist vielfach höher. Das heißt, dass jeder 95.Versuch, über das Mittelmeer zu gelangen, tödlich endete. Europas neue, anonyme Massengräber liegen Mitten in der europäischen Todesfabrik Mittelmeer.
Damals wie heute verlassen Menschen ihr Lebensumfeld auf der Suche nach Schutz vor Krieg, Vertreibung, sexueller Ausbeutung, Hunger u.v.m. Damals wie heute, sitzen diese Menschen zusammengepfercht in Booten und begeben sich auf eine lebensgefährliche Flucht. Die vietnamesischen Boat-People (in den 70er Jahren) sind die Boat-People des Mittelmeeres (von heute).
Damals wie heute werden Kategorien von Flüchtlingen geschaffen. Die Boat-People waren die Guten und die Roma die Schlechten. Gute syrische oder irakische Bürgerkriegsflüchtlinge gegen schlechte „Balkanflüchtlinge“. Es wird suggeriert: Syrer und Irakis würde man gerne aufnehmen, wenn nicht die Flüchtlinge aus dem Balkan kämen.
Roma erfahren vielfache rassistische Diskriminierung. Sie müssen in elendigen Verhältnissen hausen, haben selten Zugang zur medizinischen Versorgung, Bildung oder sonstigen Dienstleistungen. Zentrale Sonderlager für Roma zu fordern, entlarvt vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, die Ideologie, die hinter solchen Forderungen steckt. Schnellverfahren und beschleunigte Abschiebungen gegen Roma, sollen darauf zielen, in Deutschland nicht menschenwürdig behandelt zu werden und abzuschrecken.
Asylverfahren kann man beschleunigen – das Denken scheinbar nicht. Abwehr und Abschreckung, die gleichen Rezepte, damals wie heute.
Kürzlich schrieb Heribert Prantl treffend: Grundrechte sind nicht aus Seife: sie werden nicht durch ihren Gebrauch abgenutzt. Die Würde des Menschen steht nicht unter dem Vorbehalt, es sei denn, es sind zu viele Menschen vorhanden. Sie wird in Artikel 1 Grundgesetz vorbehaltlos gewährt. Und die Probleme, die es in Fluchtländern gibt, verschwinden nicht dadurch, dass man diese Länder zu „sicheren Herkunftsländern“ definiert; Probleme lassen sich nicht wegdefinieren. Man könnte die ganze Welt für sicher erklären, mit Ausnahme von ein paar wenigen Staaten. An den Fluchtgründen würde sich nichts ändern.
Die Floskel, man müsse die Fluchtursachen bekämpfen, ist eine hohle Phrase, die damals wie heute bemüht wird. Nichts ist damals passiert, nichts wird heute passieren, um Fluchtursachen zu bekämpfen, solange wir die Ursachen oft selbst schaffen und ökonomisch profitieren. Bekämpft werden die Flüchtlinge, nicht die Fluchtgründe.
Die Botschaft der Flüchtlinge: Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört habt, ist näher an der Realität dran als ein juristisch definierter und politisch opportuner Flüchtlingsbegriff.
Es ist aber nie zu spät, nationale, egoistische, zerstörerische profitorientierte Praktiken zu stoppen und sich für eine andere Weltordnung zu entscheiden, die Mensch und Natur nicht als Gegner betrachtet. Eine Weltherrschaft, die nicht von Europäern, Amerikanern oder Chinesen; nicht von Moslems, Christen oder Hindus; von Weißen oder Schwarzen; von Männern oder Frauen, getragen und geprägt wird, sondern von der Erkenntnis, dass nur die würdevolle Existenz aller Lebewesen und der Schutz der Umwelt die Zukunft sichern wird.
Nur dies wird den Tod von weiteren Aylans verhindern. Aktuell Meinung
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Danke! Es tut gut, in dieser medialen Endzeitstimmung einen solchen Rundumschlag zu lesen, auch wenn er an konkreten Strategien vage bleibt. Egal, für diesen Augenblick…
Es sollte nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich immer mehr Menschen der arabischen Welt für die Golfstaaten schämen oder sie verspotten, weil sich nicht bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen.
http://www.aljazeera.com/indepth/opinion/2015/09/refugee-crisis-gulf-countries-150905085458691.html
http://www.welt.de/politik/ausland/article146087459/Warum-die-reichen-Golfstaaten-in-der-Krise-untaetig-bleiben.html