Ehrenamt
Größter Hilfseinsatz seit dem Zweiten Weltkrieg
Jeden Morgen rollt ein Zug mit Flüchtlingen in den Messebahnhof Hannover-Laatzen. Von dort werden sie auf Unterkünfte in ganz Norddeutschland verteilt. Freiwillige engagieren sich täglich für die Ankommenden. Der Dauereinsatz geht an die Substanz.
Von Björn Schlüter Freitag, 30.10.2015, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 07.06.2021, 10:13 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Mit kreischenden Bremsen kommt die Elektrolok mitsamt acht Waggons voller Flüchtlinge um kurz nach sechs Uhr morgens im Messebahnhof Hannover-Laatzen zum Stehen. Für viele Passagiere ist das Geräusch ein Weckruf. Die rund 100 Helfer, die sich zu dieser frühen Stunde bereithalten, um die Ankommenden bei ihrer Weiterreise in Flüchtlingsunterkünfte in Norddeutschland zu unterstützen, sind schon seit Stunden auf den Beinen. Die Hilfe geht an die Substanz, sagen viele. Dennoch sind alle mit ganzer Kraft dabei.
„Seit zwei Wochen klingelt mein Wecker täglich um kurz vor vier“, sagt Abdulkader Ashkar. Auf seiner neongelben Warnweste steht in mehreren Sprachen „Arabisch“. Der selbstständige Unternehmer ist Muttersprachler und damit wie täglich rund 30 weitere Dolmetscher ein wichtiger Ansprechpartner für die Ankommenden. Jetzt in den Herbstferien begleitet ihn auch jeden Morgen seine Tochter Ranim. „Es ist wichtig, dass man hilft“, sagen beide mit leicht verkniffenen Augen. „Den Schlaf müssen wir eben später aufholen.“
Täglich sind in Niedersachsen wie in anderen Bundesländern Tausende Freiwillige im Einsatz, um Flüchtlinge zu versorgen. Ob früh morgens auf dem Bahnhof, beim Aufbau von Unterkünften oder bei der Ausgabe von Essen in Erstaufnahmen – der Einsatz fordert alle. „Die Ehrenamtlichen sind mit Herzblut dabei“, sagt Kerstin Hiller vom Deutschen Roten Kreuz. Manche hätten sogar für Einsätze ihren Urlaub geopfert. „Die gehen an ihre Grenzen.“
Das beobachtet Britta Kindler vom Technischen Hilfswerk ebenfalls. „Die Einsätze sind sehr anstrengend, keine Frage. Dennoch würde keiner von unseren Leuten sagen, dass es nicht mehr geht“, sagt sie. Johanniter-Landesvorstand Thomas Mähnert sieht genau darin ein Problem: „Obwohl die Ehrenamtlichen weiterhin motiviert sind, ist doch das Ende der Belastbarkeit erreicht. Erholungspausen sind enorm wichtig.“
In Laatzen passieren die Flüchtlinge auf ihrem Weg zu den Bussen inzwischen eine kleine Versorgungsstation, wo Helfer wie Katja Ihssen sie mit Schokoriegeln oder Getränken versorgen. Mit geübten Handgriffen verteilt sie Tetrapacks oder Teebecher. „Das war sicher nicht das letzte Mal, das ich hier bin“, sagt die Bürokraft. Bei der Region Hannover darf sie den Einsatz auf ihrem Arbeitszeitkonto verbuchen. „Deswegen macht das aber keiner“, versichert sie. „Wenn die Hütte hier wirklich brennt, komme ich gerne – und danach geht es ins Büro.“
Bei großen Arbeitgebern führen die Hilfseinsätze oder die Freistellung von Mitarbeitern selten zu Problemen, sagt Kerstin Hiller. Dennoch versuchten das Rote Kreuz und auch die anderen Hilfsorganisationen, die Ehrenamtlichen durch mehr Hauptamtliche zu unterstützen, um den „größten Hilfseinsatz seit dem Zweiten Weltkrieg“ zu meistern. „Dennoch brauchen alle immer wieder die Ehrenamtlichen, wenn neue Entwicklungen eintreten. So viele Hauptamtliche kann keiner vorhalten.“
Die niedersächsischen Unternehmerverbände sehen dadurch vor allem kleine Arbeitgeber vor massiven Problemen. Die Helfer hätten eine feste Aufgabe in den Unternehmen, sagt Hauptgeschäftsführer Volker Müller. „Deshalb kann das Ehrenamt nur kurzfristig Notsituationen auffangen und keine langfristige Lösung sein.“ Teilweise hätten Unternehmen bereits reagiert. Sie erlaubten nur noch Einsätze bis zu einer bestimmten Stundenobergrenze oder koordinierten Freistellungen: „Damit nicht alle auf einmal fehlen.“
Die Flüchtlingskrise sei für alle, für Arbeitgeber, Hilfsorganisationen und für die ehrenamtlichen Helfer ein „dickes Paket“, betont der stellvertretende Einsatzleiter in Laatzen, Thomas Och. Dort könnte es zukünftig sogar noch dicker kommen. Aktuell werde darüber verhandelt, dass täglich ein zweiter Zug an diesem neuen Flüchtlingsdrehkreuz für den ganzen Norden eintreffen soll, sagt der Oberkirchenrat der hannoverschen Landeskirche. Er übernimmt ehrenamtlich auch die Personalplanung für den Hilfseinsatz.
„Wenn ein Zug morgens und ein Zug abends kommt, lässt sich das mit dem bisherigen Personal auf gar keinen Fall beschicken.“ Dann würden deutlich mehr Helfer benötigt. Der Einsatz an diesem Tag ist am Messebahnhof um kurz nach acht Uhr beendet. Die rund 470 Flüchtlinge sind in ihre Busse umgestiegen, die Helfer packen zusammen. Die meisten verabschieden sich mit einem „Bis morgen“ – und fahren zur Arbeit. (epd/mig) Gesellschaft Leitartikel
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