Kindeswohl?
Verteilung minderjähriger Flüchtlinge auf die Bundesländer
Unbegleitete minderjährige Geflüchtete werden seit Anfang November wie Erwachsene auf die Bundesländer verteilt. Dafür sorgt ein neus Gesetz, das mit dem Vorrang des Kindeswohls aus der UN-Kinderrechtskonvention begründet wird. Ob die Neuregelung wirklich dem Kindeswohl dient, darf aber bezweifelt werden. Von Melina Lehrian
Von Melina Lehrian Freitag, 13.11.2015, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 16.11.2015, 15:46 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Das jüngst beschlossene „Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher“ ist am 1. November 2015 in Kraft getreten. Die Verteilung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen erfolgt damit nach dem „Königsteiner Schlüssel“, der festlegt, wie viele Asylsuchende jedes Bundesland anteilsmäßig aufnehmen muss. Der Verteilungsschlüssel findet seine Rechtsgrundlage im Asylgesetz und wird für jedes Jahr entsprechend der Steuereinnahmen und der Bevölkerungszahl der Länder berechnet.
Gemäß des neuen Verfahrens nimmt das Jugendamt, an das sich die Kinder und Jugendliche wenden, diese vorläufig in Obhut und überprüft innerhalb einer Woche, ob sie minderjährig sind und keine Angehörigen in Deutschland haben. Erst danach erfolgt die Meldung an das Bundesverwaltungsamt, welches das Aufnahmeland nach dem „Königsteiner Schlüssel“ berechnet. Das zur Aufnahme verpflichtete Land benennt nun wiederum ein regionales Jugendamt, das zuständig wird. Dorthin werden die unbegleiteten Minderjährigen dann gebracht.
Bisher waren geflüchtete Kinder und Jugendliche von diesen Verteilungsmechanismen ausgenommen. Dies wurde vor allem mit dem Vorrang des Kindeswohls begründet. Insbesondere die großen Städte im Norden wie Bremen und Hamburg sollen bis zur Neuregelung überdurchschnittliche viele unbegleitete Minderjährige aufgenommen haben. Folge war eine deutliche Überlastung der hiesigen Jugendämter, die bisher für die Aufnahme und Versorgung der Minderjährigen zuständig waren. Diese sollen nun entlastet werden, wenn die Kinder auch auf die anderen Bundesländer verteilt werden.
Fraglich ist allerdings, ob diese Bundesländer ihrer neuen Aufgabe gewachsen sind. In der Vergangenheit kaum mit diesen Herausforderungen konfrontiert, müssen sie nun Unterkünfte, Betreuungsmöglichkeiten, Schulplätze und weitere Förderungsmöglichkeiten schaffen. Auch die Bereitstellung von Personal und Infrastruktur ist dringend notwendig. Zwar werden hierfür entsprechende finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt. Allerdings hätten nach Angaben des „Bundesfachverband Unbegleitete Minderjähriger Flüchtlinge e.V.“ Länder und Kommunen seit dem Gesetzesbeschluss im Oktober nicht ausreichend Zeit zur Umsetzung gehabt. Gefährdet wird dadurch hauptsächlich das Kindeswohl, das in der UN-Kinderrechtskonvention niedergelegt ist. Schleswig-Holsteins Sozialministerin Alheit etwa kündigte an, dass „für eine befristete Übergangszeit“ mit Abweichungen von geltenden Standards gerechnet werden müsse.
Aber auch in weiteren Aspekten beschneidet die Neuregelung den Vorrang des Kindeswohls. Vor der Verteilung der Kinder und Jugendlichen kann keine rechtliche Vertretung bestellt werden, was zur Folge hat, dass Familienzusammenführungen innerhalb Deutschlands für die Minderjährigen schwer durchsetzbar sind und erst nach der Umverteilung erfolgen können. Es kann somit Jahre dauern bis die Kinder und Jugendlichen, die meist schwer traumatisiert in Deutschland ankommen ein gefestigtes soziales Umfeld haben.
Zudem nimmt die zwangsweise Umverteilung den Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, ihren Aufnahmeort frei zu wählen und damit in die Nähe von Freunden oder Bekannten zu ziehen. Außerdem haben sich in besagten Städten bereits Gemeinschaften gebildet, die die Minderjährigen sozial und kulturell auffangen können. Dies ist insbesondere im Hinblick auf fehlende sprachliche Verständigungsmöglichkeiten in der Anfangszeit relevant. Diese Netzwerke können ihnen helfen, den Bezug zu ihren Herkunftsländern aufrecht zu erhalten und ihre Kultur zu bewahren. Auch stärken ebensolche Gemeinschaften den sozialen Zusammenhalt, da die Minderjährigen ihre Erfahrungen mit anderen Geflüchteten teilen können, die vergleichbare Schicksale haben. Darüber hinaus kann ihnen vielmals dabei geholfen werden, Kontakt zu ihren Familien aufzubauen.
Aus der Verteilung gegen ihren Willen erwächst in einem zweiten Schritt die Gefahr, dass die Minderjährigen untertauchen und sich eigenständig auf die Suche nach befreundeten Personen begeben. In der Konsequenz wären sie vollkommen schutzlos gestellt.
Darüber hinaus bleibt fraglich, ob eine Verteilung, die überwiegend auf Lastenverteilungsaspekten beruht, überhaupt europarechtskonform ist. Art. 19 Abs. 2 Satz 4 der Aufnahmerichtlinie 2003/9/EG sowie Art. 24 Abs. 2 Satz 4 der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU besagen, dass der Wechsel des Aufenthaltsortes bei unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten auf ein Mindestmaß zu beschränken sind. Die Berufung auf das Argument des Kindeswohls könnte meiner Meinung nach zur Rechtfertigung aus oben genannten Gründen jedenfalls versagen. Aktuell Meinung
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Mal abgesehen vom eigentlichen Sachbezug der Argumentation, finde ich es irgendwie momentan interessant, wie plötzlich dieser „Recht auf Community“-Tenor geblasen wird.
Als ich mich vor einigen Jahren noch mit der Materie beschäftigt habe, da war es noch ein integrationspolitischer Untergang, wenn man ethnische Segregation fördert. Da war es noch eine gewollte Exklusion der Deutschen. Heute fordert mal diese plötzlich aus den Kreisen, die früher wahnsinnig dagegen waren. Ein Ausdruck, der zeigt wie man eigentlich mit seinem Latein langsam an die eigenen ideologischen Grenzen stößt – oder eigentlich nur Fundamentalkritik auslebt.
Dieser Artikel kann leider (migrationssoziologisch) empirisch nicht belegen, ob es tatsächlich von Vorteil ist, wenn man sich in seine Community zurückziehen kann. Außerdem unterstellt diese Annahme, dass eine lokale Community die notwendigen Kapazitäten besitzt. Das ist auch fraglich. Ausnahme stellt für mich natürlich eine Familie dar, allerdings ist nicht in jedenfall davon die Rede.