Dietmar Bartsch
„Das ‚Wir schaffen das‘ der Kanzlerin war richtig. Leider fehlte ihr ein Konzept.“
Seit Monaten läuft die Flüchtlingsdebatte. Gesetze wurden bereits verschärft, neue Einschränkungen sing geplant. Für eine ganz andere Flüchtlingspolitik setzt sich Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch ein. MiGAZIN sprach mit ihm über die aktuellen Herausforderungen und was seine Partei anders machen würde.
Donnerstag, 26.11.2015, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 01.12.2015, 15:40 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
MiGAZIN: Herr Bartsch, die hohe Zahl der ehrenamtlichen Helfer in Deutschland ist überaus erfreulich. Vielenorts stoßen die Freiwilligen aber an ihre Belastungsgrenze. Wo sehen Sie die Bundesregierung in der Pflicht?
Dietmar Bartsch: Die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer haben vielerorts eine humanitäre Katastrophe verhindert. Ihr Einsatz ist gar nicht hoch genug zu würdigen. Oftmals haben sie Kernaufgaben des Staates übernommen, der schlicht versagt hat. Das darf so nicht sein. Auch in den meisten Verwaltungen wird engagiert gearbeitet. Den gewaltigen Personalabbau im Öffentlichen Dienst haben nicht die dort Beschäftigten zu verantworten, die die Folgen nun zu tragen haben.
Derzeit ist es so, dass vor allem die Kommunen völlig unzureichend unterstützt werden. Wir fordern seit langem, dass der Bund die Unterbringungs- und Versorgungskosten für die Dauer des Asylverfahrens und für eine Übergangszeit nach einer Anerkennung komplett übernimmt. Der Bund muss sich darüber hinaus um die notwendigen Investitionen in die Infrastruktur und in die Integration kümmern – beim Bau von Wohnungen, bei der Einstellung von Erzieherinnen und Erziehern sowie Lehrerinnen und Lehrern, bei der sozialen Infrastruktur und bei der Integration in den Arbeitsmarkt etwa. Länder und Kommunen können die Aufnahme und die Integration der Schutzsuchenden nicht allein stemmen.
Der Bund ist aber in noch ganz anderer Größenordnung gefordert. Schließlich ist Deutschland für Fluchtursachen in mehrfacher Hinsicht mit verantwortlich. Die müssen beseitigt werden.
MiGAZIN: Apropos Fluchtursachen: Ihre Partei schlägt bei diesem Thema ganz andere Töne an als Schwarz-Rot. In einem Positionspapier zeichnen Sie die USA und ihre „westlichen Verbündeten“ als verantwortlich für die aktuelle Fluchtsituation im Nahen Osten. Sie fordern Kriegsstopp oder ein Stopp von Waffenlieferungen. Ist Ihre Außenpolitik machbar ohne einen offenen Bruch mit den Verbündeten oder mit der Waffenindustrie? Frankreich etwa befindet sich eigener Aussage zufolge derzeit sogar „im Krieg“.
Bartsch: Wir haben ja kein Bündnis mit der Waffenindustrie, also gibt es auch keinen Bruch (lacht). Ein Stopp von Waffenexporten in Krisenregionen wäre sofort notwendig und machbar, ohne große wirtschaftliche Verwerfungen. Wenn das ein paar Vertragsstrafen kostet, dann ist es eben so. Das sollten uns der Frieden und die Bekämpfung von Fluchtursachen schon wert sein! Schnell sollten jedoch alle Waffenexporte verboten und die Konversion dieser Arbeitsplätze vorangetrieben werden.
Meine grundsätzliche Position und Erfahrung ist: Terror lässt sich nicht mit Krieg bekämpfen. Konflikte in Krisenregionen werden entweder politisch gelöst – oder gar nicht. Die Ressourcen des IS muss man austrocknen. Er darf kein Geld bekommen, er darf keinen Nachwuchs rekrutieren können. Wir brauchen einen Friedensplan der internationalen Gemeinschaft für Syrien und keine Stellvertreterkriege.
Nach den Anschlägen von Paris müssen wir uns natürlich weiter die Frage stellen, wie Terror bekämpft werden kann. Wir als LINKE meinen: mit zivilen Mitteln, mit guter, europäisch koordinierter Ermittlungsarbeit der Polizei, mit Prävention. Freiheitsbeschränkungen sind keine Lösung, unsere Antwort kann letztlich nur lauten: Mehr Offenheit, mehr Demokratie. Mich ermutigt es sehr, wenn gerade jetzt junge Leute sagen und zeigen, dass sie sich ihren Alltag, zu dem Sport, Musik, Reisen und Geselligkeit zählen, nicht kaputt machen lassen.
MiGAZIN: Bei der Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen scheint der Staat an seine Grenzen zu stoßen. Und der Winter steht vor der Tür. Sind wir tatsächlich überfordert oder einfach nur nicht gut genug vorbereitet?
Bartsch: Die Bundesregierung hat eine rechtzeitige und gute Vorbereitung versäumt. Die Berichte von Menschenrechtsorganisationen, die Hilferufe des UNHCR, aber auch die Katastrophen im Mittelmeer wiesen schon vor einem Jahr darauf hin, dass sich sehr viele Menschen auf den Weg machen werden oder schon auf der Flucht sind. Auch aus den Ländern und Kommunen kamen frühzeitig Hinweise, dass die Asylprognosen des Bundes viel zu niedrig sind. Hierzulande setzten Verantwortliche lange darauf, die Türkei, Griechenland und Italien würden die Flüchtenden aufhalten und das Dublin-System funktionieren. Dieses Denken war und ist menschenverachtend, es war und ist grundfalsch.
Überfordert ist unser Land nicht, aber herausgefordert. Und diese Herausforderung, viele schutzsuchende Menschen bei uns aufzunehmen, müssen wir annehmen und uns nicht mit irrigen Debatten über Obergrenzen oder Abschottungsmethoden aufhalten. In den Kommunen, besonders in denen mit Wohnraumknappheit, wird es schon schwierig. Aber bisher haben findige Verantwortliche vor Ort und auch die unglaublich engagierten Ehrenamtlichen das toll gemeistert.
Ich hatte jetzt viele Gespräche mit Kommunalpolitikerinnen und -politikern. Sie haben kein Blatt vor den Mund genommen bei der Schilderung der großen Probleme, vor die sie jahrelanges Staatsversagen und die gegenwärtige Flüchtlingsbewegung stellen. Aber alle haben zugleich den Willen ausgestrahlt, die Aufgaben zu bewältigen, und sie beweisen das im Alltag. Leider werden viele Potentiale im Land aus ideologischen Gründen der Abschottung nicht genutzt: Warum können Asylsuchende z.B. nicht von Beginn an bei Verwandten, Freunden und privaten Unterstützerinnen und Unterstützern wohnen, wenn dies möglich ist? Die Rechtslage und das starre Verteilungssystem in Deutschland stehen dem entgegen, und trotz großem Unterbringungsbedarf werden diese Regelungen nicht geändert. Stattdessen wurde der verpflichtende Aufenthalt in riesigen Erstaufnahmeeinrichtungen noch verlängert.
Bund, Länder und Kommunen müssen schnell handeln, besonders bei der Schaffung von Wohnraum und von Möglichkeiten zur Integration in Arbeit, Bildung und Gesellschaft. Aber welches Land, wenn nicht das wirtschaftlich starke Deutschland, sollte diese Aufgabe meistern?! Interview Leitartikel Politik
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615 Milliarden sind nicht viel, wenn man bedenkt, dass das über lange Perioden gewachsene Vermögenswerte sind und nicht Gelder, die im Jahr mal so „verdient“ werden. Entscheidend ist nicht das, was die Leute haben, sondern was ihr Vermögen abwirft. Würde man ihren Besitz enteignen, stünde man ja vor dem gleichen Problem. Hier wird wieder mal auf sozialistische Art argumentiert. Noch nichts gelernt aus dem Zusammenbruch der DDR? Deutschlands Problem sind seine überbordenden Sozialabgaben und Schulden (rund 50% der Steuerlast). Sie verhindern die Vermögensbildung beim kleinen Mann.