Ausstellung
Folgen politisch verhinderter Familiennachzüge
Der Familiennachzug zu Flüchtlingen wurde eingeschränkt. Die Folgen solcher politischer Entscheidungen zeigt die Ausstellung "Generation Einskommafünf" in Bildungsstätte Anne Frank. Dort kommen Kinder von einstigen Gastarbeitern zu wort, die in der Heimat bleiben mussten. Auch ihr Familiennachzug war Anfangs nicht gewollt.
Freitag, 04.12.2015, 8:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 06.12.2015, 19:18 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Generation Einskommafünf – Das sind die Kinder der sogenannten „Gastarbeiter“, deren Eltern ab Anfang der 60er Jahre aus der Türkei nach Deutschland kamen. Diese Kinder wuchsen zunächst bei Familienangehörigen, bei Omas und Opas, Tanten und Onkeln in der Türkei auf. Getrennt von den Eltern hinterließ diese Trennung psychische Narben – teilweise auf Dauer. In der Installation der Frankfurter Künstlerin Olcay Acet erzählen Angehörige der Generation Einskommafünf ihre Geschichten. MiGAZIN sprach mit der Künstlerin und Oliver Fassing von der Bildungsstätte Anne Frank, die diese Sonderausstellung in Frankfurt zeigt.
MiGAZIN: Die Bildungsstätte Anne Frank hat die Geschichte des Nationalsozialismus und ihre Bezüge zur Gegenwart zum Schwerpunkt. Welche thematischen Schnittpunkte gibt es zwischen der Generation Einskommafünf und der Bildungsstätte, dass Sie diese Sonderausstellung zeigen?
Oliver Fassing: Die Beschäftigung mit Migrationsgeschichten ist ein wesentlicher Bestandteil der politischen Bildungsarbeit der Bildungsstätte Anne Frank: Zum einen, weil Anne Frank und ihre Familie selbst Migranten waren – die Familie ging 1933 nach Amsterdam – und zum anderen, da wir die hiesige Gesellschaft nicht nur als postnationalsozialistisch und postkolonial begreifen, sondern eben auch als Migrationsgesellschaft. Das bedeutet für uns, dass die gesamte Gesellschaft wesentlich von Migration geprägt worden ist und geprägt wird.
Generation Einskommafünf ist eine Ausstellung über einen bisher wenig beachteten Teil deutsch-türkischer Migrationsgeschichte. Sie kommt spielt in der Öffentlichkeit kaum eine Rolle, auch im schulischen Unterricht ist das nicht anders. Wir möchten mit dieser Ausstellung einerseits einen Raum für Erzählungen anbieten und andererseits das Narrativ zur deutsch-türkischen Migrationsgeschichte durch Perspektivenerweiterungen irritieren. Dabei geht es uns in der Arbeit zu Themen wie Diskriminierung, Rassismus oder Flucht und Asyl generell darum, die Perspektiven von Betroffenen sichtbar zu machen. Es ist notwendig, mit den Betroffenen zu reden und nicht über sie – oder, wie im Rahmen der Ausstellung „Generation Einskommafünf“, ihnen einfach zuzuhören.
MiGAZIN: Frau Acet, wie kommt eine Frankfurter Künstlerin eigentlich zu diesem Thema?
Olcay Acet: Dass ich mich momentan als Frankfurterin definiere hat nichts damit zu tun, was ich als Künstlerin mache. Ich war nicht immer Frankfurterin. Die Liebe und Pragmatismus haben mich 1996 nach Frankfurt geführt und jetzt lebe ich noch hier, weil meine Kinder hier verortet sind.
Mit diesem Thema, also der Generation Einskommafünf, hätte ich mich vermutlich überall beschäftigt. Das ist mein Thema und es hat mich geprägt. Es fing sozusagen als ein Verarbeitungsprozess meiner eigenen Vergangenheit an und rundet mit der kreativen Umsetzung eines Kunstprojektes ab. Meine Erlebnisse und Erfahrungen sind zu einem Schatz, zu einer Ressource geworden, aus denen ich herausschöpfe.
MiGAZIN: Es gibt sicher viele Besucher Ihrer Ausstellung, die sich persönlich angesprochen fühlen, sich selbst in der Ausstellung sehen weil sie eine ähnliche Geschichte haben. Welche Erfahrungen haben Sie in den vergangenen Wochen gemacht? Wie reagieren Menschen auf Ihre Ausstellung?
Olcay Acet: Ich erfahre sehr viel Zuspruch und Dankbarkeit. Viele Betroffene finden es sehr mutig. Es sind zumeist schnell persönliche und intime Gespräche im Austausch. Es geht oft ins Eingemachte, wie z.B.: Ich habe Beziehungsstörungen, kann schwer vertrauen. Kennst du das auch? Oder „Nach der Geburt habe ich Depressionen bekommen und Bindungsstörungen zu meinem Baby entwickelt. Ich habe eine Weile gebraucht, um herauszufinden, was die Ursache war.“
Viele fühlen sich ermutigt, endlich darüber zu sprechen. Die gemeinsame Erfahrung ist die Basis für die Nähe, die empfunden wird. Es kommen auch sehr viele Angehörige oder Freunde von Betroffenen zu mir und erzählen. Sie verstehen, worum es mir geht. Andere wiederum wollen mit diesem Thema arbeiten, thematisieren es an der Uni, Fachhochschule oder anderen Institutionen. Wollen dieses Thema als Gegenstand im pädagogischen Bereich oder in der sozialen Arbeit anwenden.
MiGAZIN: Herr Fassing, wie welche Rückmeldungen haben Sie in den vergangenen zwei Monaten, seit die Ausstellung zu sehen ist, erhalten? Wie ist die Resonanz Ihrer Besucher?
Oliver Fassing: Wir sind sehr zufrieden. Neben den Abendveranstaltungen stieß auch die Fortbildung für Lehrkräfte und Multiplikatoren aus der außerschulischen Bildungsarbeit auf großes Interesse. Zudem gab es mehrere Besuche von Schulklassen, eine Filmvorführung an einer Schule sowie Besuche von Studien-Seminaren, die wir jeweils pädagogisch begleitet haben.
Wir haben dabei viele positive Rückmeldungen erhalten, von Angehörigen der zweiten, dritten und vierten Generation türkischer Einwanderer. Von Personen, die sich über ihre eigene Geschichte, die Geschichten ihrer Eltern oder Freunden mit der Generation Einskommafünf verknüpfen konnten. Hier zeigte sich auch die Relevanz eines außerschulischen Angebotes. Beim Besuch einer Schulklasse nutzten die Jugendlichen beispielsweise den Raum, sich mit den Migrationsgeschichten ihrer Eltern oder ihrer Freunde auseinanderzusetzen, an die sie die Ausstellung erinnerte. Aktuell Feuilleton Interview
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