Geschichte wiederholt sich
Wieder Familiennachzug, wieder „Flüchtlingskrise“, wieder Fehler
Die These, Deutschland ist kein Einwanderungsland galt teilweise bis ins neue Jahrtausend hinein. Heute muss es heißen, dass Deutschland auch ein Einwanderungsland für internationale Fluchtbewegungen ist. Das Land steht erneut vor einem migrationspolitischen Wendepunkt. Von David Yuzva Clement
Von David Yuzva Clement Mittwoch, 10.02.2016, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 11.02.2016, 17:37 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Jahrzehnte lang, seit Beginn der Anwerbeabkommen ab 1955 bis kurz vor Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1.1.2005, wurde die Bevölkerung in Deutschland mit der Haltung, „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ und politischen Statements wie „Das Boot ist voll“, konfrontiert. Geprägt wurde diese Politik durch eine drastische Verschärfung der Asylgesetzgebung als Folge der Einwanderung von Kriegsflüchtlingen insbesondere aus Ex-Jugoslawien. Ebenfalls sei an Maßnahmen wie die Green-Card erinnert, die zum Ziel hatte, IT-Spezialisten anzuwerben, oder bilaterale Abkommen zur Beschäftigung von Erntehelfern beispielsweise. Dieses, einerseits durch Verweigerungshaltung und andererseits durch Widerspruch geprägte politische Programm lieferte die Grundlage für eine zwiespältige Einwanderungs-politik die auch noch heute anhält.
Die Politik steht heute erneut vor der Herausforderung, eine Wählerschaft von der Notwendigkeit „Deutschland ist (nach wie vor) ein (sich transformierendes) Einwanderungsland“ zu überzeugen, die nun seit einiger Zeit erneut mitgeteilt bekommt, bzw. sich im Social Web selbst mitteilt, dass ein Großteil der Menschen die ins Land kommen, wieder gehen wird und dass zu viele Flüchtlinge in Deutschland und der EU leben. Dass, global betrachtet, die überwältigende Mehrheit der Flüchtlinge in Ländern des sog. Nahen Ostens, der subindischen Region und auf dem afrikanischen Kontinent migriert, spielt dabei eine untergeordnete, weil selbstgefällige Rolle.
Die Bundesregierung steht vor keiner leichten Aufgabe und augenscheinlich ist es nicht gelungen, das alte Paradigma „Das Boot ist voll“ durch ein anderes zu ersetzen, nämlich „Das Boot ist leer“. Gemeint sind die demografische Entwicklung, bzw. die Überalterung unserer Gesellschaft und die verschärfte und festgefahrene Situation auf dem Arbeitsmarkt. Ebenfalls kann konstatiert werden, dass rechtsextreme Parteien in Deutschland und anderen europäischen Ländern nicht mehr von der politischen Landkarte wegzudenken sind, doch nicht nur das, unlängst sind menschenfeindliche Deutung- und Orientierungsmuster in der Mitte der Gesellschaft angekommen und haben sich dort festgebissen. Statements wie „multikulti ist tot“ waren an dieser Stelle nicht sonderlich hilfreich. Bewegungen wie Pegida verstehen sich dabei als Vollstrecker einer schweigenden Mehrheit und bieten ein Radikalisierungsmilieu, aus dem extremistische Anschläge heraus auf Migrantinnen und Migranten sowie Flüchtlingsheime erfolgen, ähnlich wie Anfang der 1990er Jahre.
„Gastarbeiter“, der Versuch einer Politik der Abschreckung und ihre Folgen
Der sog. Anwerbestopp von 1973, Resultat der Wirtschaftskrise von 1966/67 und der Ölkrise von 1973, hatte zum Ziel, die Einwanderung in die Bundesrepublik Deutschland zu begrenzen, indem die Menschen – durch Medien stigmatisierend als „Gastarbeiter“ bezeichnet – aufgefordert wurden, wieder nach Hause zu kehren; dafür gab es sogar Geldprämien. Doch dies passierte nicht in dem gewünschten Ausmaß, da die Wirtschaft und Gewerkschaften an diesen Arbeitskräften ein großes Interesse hatten, auch die Menschen selbst wollten in Deutschland bleiben. Aus der Befürchtung heraus, nicht wieder einwandern zu können und dadurch ihre Existenz zu verlieren, holten die „Gastarbeiter“ ihre Familien in die Bundesrepublik nach. Neben dem Anwerbestopp von 1973, auf den 1998 im Übrigen mit der sog. Anwerbestoppausnahmeverordnung reagiert wurde (die bis 2011 galt), lieferten sich die damalige Bundesregierung und Opposition eine in den Medien ausgiebig geführte Debatte über eine Herabsetzung des Nachzugsalters für ausländische Kinder, die auch dann weitergeführt wurde als 1984/85 das Nachzugspotential eigentlich erschöpft war.
Verschärfung der Asylpolitik in den 1990er Jahren
Ab Anfang der 1990er Jahre setzte eine bis dahin noch nie da gewesene rasante Zunahme der Einwanderung von Flüchtlingen vorrangig aus Ex-Jugoslawien ein, auf die mit dem sog. Asylkompromiss vom 6.12.1992, vor dem sich SPD und FDP lange sträubten, reagiert wurde. Begriffe wie „Wirtschaftsflüchtlinge“ und auch die „Gefahr vor Terroristen aus Jugoslawien“ bestimmten die Debatte. Laut BAMF war der Höhepunkt der in der BRD gestellten Asylanträge bislang das Jahr 1992 mit 438.191 Anträgen, 2015 lag die Zahl bei 476.649 Asylanträgen. Mitte 1993 trat die Reform des Asylgrundrechts und das angepasste Asylverfahrensgesetz schließlich in Kraft und über Nacht schottete sich Deutschland mit der Einführung des Artikel 16a asylpolitisch ab.
Die Rückkehrförderung von bosnischen Flüchtlingen in der zweiten Hälfte der 1990er Jahren ging nur schleppend voran und Deutschland geriet in die Kritik, da der politische Druck auf die Flüchtlinge anstieg und die Bundesrepublik ihre Re-Emigrationspolitik nicht an der Situation in Bosnien-Herzegowina ausrichtete, das nach wie vor fragil war und z.B. keine funktionierende Polizeistruktur aufgebaut hatte. Eine, wie jüngst gefordert, Rückführung von Flüchtlingen aus Afghanistan steht unter ähnlichen Vorzeichen.
Asylpaket II – eine Gefahr für Familien?
Am 28.1.2016 wurde von der schwarz-roten Bundesregierung das Asylpaket II beschlossen. Und schon wieder ist Familiennachzug Thema, neben weiteren Einschränkungen und Regelungen.
Im Ergebnis soll für Menschen mit einem subsidiären Schutz sowie, davon kann ausgegangen werden, ebenfalls für syrische Kriegsflüchtlinge in Deutschland ein Familiennachzug nun mindestens zwei Jahre nicht „legal“ und ungefährlich stattfinden können. Erneut stehen Familien im Fokus einer restriktiven Symbolpolitik, die nun über Jahre hinweg getrennt leben müssen. Über diese Politik werden sich Familien nun erneut, wie 1973, hinwegsetzen und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.
Getrieben aus Verzweiflung und Sehnsucht machen sie sich – das ist zu erwarten auf Grund der prekären Situation in Flüchtlingscamps – Familienangehörige, oftmals Frauen und Kinder, auf den Weg nach Deutschland und begeben sich dabei, wie so viele andere Tausend vor ihnen, in Lebensgefahr. Es ist überhaupt nicht nachvollziehbar, warum sich die Bundesregierung für diese lebensgefährliche und menschenunwürdige Art der Familienzusammenführung ausgesprochen hat.
Diese restriktive Politik orientiert sich dabei weniger am asylsuchenden Menschen, sondern wird beschleunigt durch eine Angst vor einem Verlust an Wählerstimmen, geschieht im Kontext der bevorstehenden Landtagswahlen in diesem Jahr sowie der Befürchtung eines noch deutlicheren Rechtsrucks der Gesellschaft. Erinnert sei an die Landtagswahl von 1992, als die als rechtsextremistisch eingestuften Republikaner als Folge der sog. Asyldebatte mit 11 Prozent in das Stuttgarter Parlament einzogen.
Asylbewerber in Deutschland gilt es zu integrieren, ein Zugang zum Arbeitsmarkt wurde daher bereits ab drei Monaten ermöglicht (das Nachrangigkeitsprinzip, ein Relikt aus den 1990er Jahren, gilt nach wie vor fort). Nun umfasst Integration mehr als Zugang zu Arbeit. Unverständlich bleit, warum sich die Bundesregierung beim Thema Familienzusammenführung so schwer tut und auf Abschreckung setzt. In Artikel 6 des Grundgesetzes hat sich der Staat demgegenüber zur Aufgabe gemacht, Familien zu schützen. Diese besondere Stellung der Familie beruht darauf, dass sie nach Ansicht des Verfassungsgebers das ideale Umfeld für das Aufwachsen von Kindern ist, ohne die auf Dauer keine staatliche Gemeinschaft gewährleistet werden kann. Dieser Maßstab muss vor dem Hintergrund der humanitären Aufnahme von Flüchtlingen auch für asylsuchende Menschen und deren Familien in Deutschland gelten.
Deutschland muss sein Selbstverständnis als Einwanderungsland neu definieren
Derzeit erinnert vieles an die sog. Asyldebatte der 1990er Jahre. Asyl wurde damals zum reißerischen Wahlkampfthema aufgeputscht, befeuert durch die Debatte über eine nachholende Integration von Spätaussiedlern und einer Zunahme rechtsextremistischer Übergriffe sowie anhaltender postjugoslawischer Kriege. Auch verläuft die politische Rhetorik entlang ähnlicher Begrifflichkeiten wie damals, wenn z.B. muslimische Flüchtlinge als potenzielle Rekrutierungsbasis für radikale sog. Salafisten abgestempelt werden.
Die auf zivilgesellschaftlichem Fundament basierende sog. Willkommenskultur vieler Menschen in Deutschland heute ist neu, doch erinnert sei auch an die überwältigenden Lichterketten nach Anschlägen wie die in Rostock-Lichtenhagen.
Die bundesrepublikanische Politik darf nun nicht erneut den Fehler eines migrationspolitischen Paradoxon machen, indem sie heute einerseits eine Willkommenskultur von der Bevölkerung einfordert und befördert („Wir schaffen das!“), aber gleichzeitig die Asylgesetzgebung erneut in einem Hauruck-Verfahren verschärft, Gruppen exkludiert und sich ein mediales Schaugefecht darüber leistet, das im Ergebnis dazu führt, dass die Lebenswelten von asylsuchenden Menschen und insbesondere Familien Schritt für Schritt beschnitten und aufs Spiel gesetzt werden. Wie die Geschichte lehrt, nutzen Maßnahmen der Begrenzung (Aussetzen des Familiennachzugs) für bereits im Land lebende Migrantinnen und Migranten und rhetorische Schlagabtausche darüber wenig, weder den eingewanderten Menschen, noch unserer Einwanderungsgesellschaft selbst. Gefährlich ist die Thematisierung von Asyl als Wahlkampfthema – auch das passiert aktuell. Im Gegensatz dazu muss die Asylpolitik unmissverständlich als humanitäre Verpflichtung verstanden werden, die sich an Bedürfnissen und Lebenslagen von Asylbewerbern in Deutschland auszurichten hat. Die eingeforderte Willkommenskultur gilt gleichermaßen für politisch Handelnde in der Bundesrepublik insbesondere im Hinblick auf Familien. Es liegt wesentlich an den Volksvertretern, diese migrationspolitische Wende endlich einzuleiten und von Schaugefechten Abstand zu halten. Aktuell Meinung
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