Tiefe Schuld – Tiefer Staat?
Erneut möglicher NSU-Zeuge tot
Um aus dem NSU-Komplex Fragen abzuleiten oder Zweifel zu formulieren, muss man kein Verschwörungstheoretiker sein. Nicht nur der so genannte NSU-Prozess, sondern auch die gesamte Entwicklung um den NSU-Komplex wird immer mehr zu einer Farce. Von Yasin Baş
Von Yasin Baş Mittwoch, 17.02.2016, 12:36 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 23.02.2016, 17:29 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Das im Vorfeld breit angekündigte „umfassende Geständnis“ der mutmaßlichen NSU-Mitttäterin Beate Zschäpe hat sich als eine Seifenblase erwiesen. Zschäpe wies vor wenigen Wochen bei ihrer schriftlichen Aussage jede Schuld von sich. Sie schob die Verbrechen den beiden mutmaßlichen Mittätern Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos zu. Leider können diese nichts mehr dazu sagen, weil sie am 4. November 2011 in Eisenach nach offizieller Darstellung Selbstmord begangen haben sollen.
Nichts gesehen, nichts gehört, nichts gesagt
Überdies soll bei mindestens einem Mord, ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes am Ort des Geschehens gewesen sein, jedoch – was für ein Zufall – nichts von dem Mord mitbekommen haben. Auch die geistige Leistungsfähigkeit von verschiedenen Zeugen scheinen nicht den Anforderungen zu genügen, die diese Menschen für ihre Jobs eigentlich benötigen. Denn immer mehr Personen geben im Zeugenstand zu Protokoll, dass sie sich nicht mehr erinnern und dieses oder jenes schon längst vergessen hätten. Dieser Prozess stinkt einfach nur noch. Sehr viele Menschen im Land, allen voran aus der türkischen Community, Prozessbeobachter und Opferanwälte zweifeln zumindest an den offiziellen Aussagen.
Seltsame Todesursachen von wichtigen Zeugen
Wie die taz berichtet, ist am Montag eine weitere Person, die möglicherweise Angaben zum NSU-Komplex machen konnte, tot aufgefunden worden. Er sei der Verlobte von Melisa M. gewesen, die ihrerseits vor einem Jahr mit 20 Jahren vermutlich an einer plötzlichen Lungenembolie verstorben ist. Sie wiederum war die Ex-Freundin von Florian H., der im September 2013 angeblich Selbstmord begangen haben soll. Florian H. und Melisa M. hatten beide vor, Aussagen zum Mörder der mutmaßlich vom NSU getöteten Polizistin Michèle Kiesewetter zu machen. Florian H. verbrannte aber noch 2013, an dem Tag, an dem er von Beamten des LKA vernommen werden sollte, in seinem Auto. Er soll sich vermeintlich aus „Liebeskummer“ das Leben genommen haben.
Daneben starben in den letzten Monaten wichtige Zeugen auf bizarre Art und Weise. Einer der Toten, Thomas R., war ein bezahlter V-Mann mit dem Codenamen „Corelli“, der im Kreis Paderborn in seiner Wohnung tot aufgefunden wurde. Eine Leiche, die sich im Zeugenschutzprogramm befand, wirft naturgemäß viele Fragen auf. Nach offizieller Darstellung sei der 39-Jährige, dessen Name auch auf einer Adressliste von Uwe Mundlos auftauchte, wegen einer „unerkannten Diabetes“ verstorben.
Schon im Jahr 2009, noch vor Auffliegen des NSU-Systems fand man die verbrannte Leiche von Arthur C., dessen Name nach Berichten der „taz“ in den Ermittlungsakten zum Kiesewetter-Mord auftauchten.
Menschen aus dem NSU-Umfeld sterben demnach überproportional an plötzlich auftretenden „Krankheiten“, „Verkohlung“ oder „Selbstmord“. Die beiden mutmaßlichen Haupttäter des NSU, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, sollen offiziell ebenso Suizid begangen haben. Jedoch äußerte vor einiger Zeit der Waffenexperte Siegmund Mittag Zweifel an der Todesursache von Mundlos und Böhnhardt. So schrieb das Nachrichtenmagazin Focus: „Mittag verweise auf die Anzahl der im Wohnmobil gefundenen Patronenhülsen und eine dort gefundene unbekannte DNA-Spur. Außerdem gebe es Zeugenaussagen, wonach sich eine weitere Person im Wohnmobil befunden habe. Mittag lehne daher die Selbstmord-Theorie der Polizei als ‚unmöglich‘ ab“.
Zweifel an offiziellen Thesen
Einige Zeitungen haben nach dem plötzlichen Tod dieser wichtigen Zeugen mit Verwunderung reagiert. Die Süddeutsche Zeitung sprach von einem „Politikum“. Die Berliner-Zeitung konstatierte in diesem Zusammenhang: „Statt Aufklärung gibt es immer neue Fragen“. Am drastischsten formulierte es wohl die taz mit ihrer Überschrift: „Land im Ausnahmezustand. Die Nichtaufklärung der NSU-Morde zeigt, wie der ‚Tiefe Staat‘ in der Bundesrepublik funktioniert – samt seiner Wasserträger im Parlament“. In diesem Kommentar formulierten Micha Brumlik und Hajo Funke: „Tatsächlich mehren sich seit Längerem die Indizien dafür, dass sich hinter dem mörderischen und rassistischen Kriminalfall NSU eine schleichende Staatskrise verbirgt.“
Vertrauen in den Rechtsstaat darf nicht beschädigt werden
Wenn die Situation wirklich so drastische Ausmaße erlangt hat, wie Brumlik und Funke sagen, dann müssen wir uns berechtigte Sorgen um unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung machen und uns fragen, ob sich Teile der Repräsentanten und Bewahrer unserer wichtigsten und wertvollsten Errungenschaften, nämlich unserer Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, einwandfrei und gewissenhaft verhalten (haben). Anders formuliert: Es wäre eine Schande, wenn sich einige Teile des Behördenapparats verselbständigt und sich daraufhin möglicherweise zu undemokratischen Selbstläufern entwickelt hätten. Eine weit größere Schande wäre es, dass diese nach ihrem Auffliegen in Versuchung gerieten, alles zu vertuschen.
„Verdacht gezielter Sabotage“ muss ausgeräumt werden
Für einen derartigen Skandal, der NSU-Untersuchungsausschuss des Thüringer Landtags sprach nicht nur von „Versagen“, sondern vom „Verdacht gezielter Sabotage“, müssten, je nach Blickwinkel, sehr viele „Zahnräder“ ineinander gegriffen oder sich übernatürliche „Zufälle“ ereignet haben. Daher wird es nicht einfach, das verloren gegangene Vertrauen in Teilen bestimmter Behörden, der Politik und Justiz wiederherzustellen. Dies aber ist nötig. Genauso nötig wie die vollständige und bedingungslose Aufklärung des NSU-Komplexes.
Ein Spiel auf Zeit?
Der NSU-Prozess, der schon seit dem 6. Mai 2013 andauert und mittlerweile auf fast 270 Prozesstage zurückschauen kann, zieht sich immer weiter in die Länge. Je länger der Prozess andauert, desto mehr steigt die Dichte an Zufällen, Blitzsuiziden und Gedächtnislücken. Das anfängliche Interesse und die Aufmerksamkeit an dem Gerichtsprozess nehmen bekanntermaßen, je länger die Verhandlungen dauern, immer weiter ab.
Wo bleibt das Versprechen der Bundeskanzlerin?
Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte den Hinterbliebenen der NSU-Opfer die vollständige und bedingungslose Aufklärung des NSU-Komplexes höchstpersönlich zugesichert. Die Verantwortlichen, ihre Helfer und Helfershelfer müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Das Verheimlichen und Vertuschen darf nicht weiter gestattet werden. Falls keine ernsthaften Konsequenzen gezogen werden, bleibt nur diese Frage: Wer im Umfeld des NSU-Systems stirbt als nächstes? Leitartikel Meinung
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