Gelichter
Fnord! oder: Wie ich einmal loszog, um die Lügenpresse zu finden
Massenmedien erfinden unsere Realität jeden Tag aufs Neue. Trotzdem ist das Wort von der Lügenpresse natürlich falsch. Von Sven Bensmann.
Von Sven Bensmann Dienstag, 23.02.2016, 8:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 23.02.2016, 18:06 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Zunächst einmal zur wichtigsten Frage: Was ist eigentlich „fnord“?
Fnord ist verdampfter Kräutertee, ohne die Kräuter, fnord ist der Ort, an den die Socken nach der Wäsche verschwinden, fnord ist das Yin ohne das Yang, ist die Verkaufssteuer auf die Fröhlichkeit, die kleinste Zahl größer als Null; fnord ist der Grund, warum Ärzte wollen, dass du hustest, der Klang einer einzelnen klatschenden Hand und die Farbe, die nur der Blinde sieht. Fnord schläft niemals. Ich komme später darauf zurück.
Damit geht’s nämlich zur zweiten Frage: Wie erfinden Massenmedien Realität, ohne Lügenpresse zu sein?
Es gibt bis heute, das mag den ein oder anderen überraschen, keine allgemein anerkannte Vorstellung davon, was Wahrheit tatsächlich ist. Es gibt sowohl die These von der Korrespondenz, also Übereinstimmung, von Vorstellungen und Tatsachen, wie auch die Vorstellung, gerade diese Übereinstimmung könne es gar nicht geben. Dann gibt es Versuche einer Kohärenztheorie der Wahrheit – wahr sei also das, was sich ohne Widersprüche in ein System anderer, wahrer, Aussagen zum Thema einfügen lässt. Diese Interpretation geht damit von einer absoluten Wahrheit aus; was das bedeutet, sehen wir in allen Religionskriegen dieser Welt. Dann wieder gibt es eine Konsenstheorie der Wahrheit. Dieser zufolge ist das wahr, was die Anerkennung aller (vernünftigen) Gesprächspartner findet. Wahrheit ist dabei, wenn man dagegen polemisiert, mehr Anspruch als Wirklichkeit – zumal die Konsenstheorie dann viel Raum für Subjektivität und Relativität lässt. Gleichzeitig führt uns diese Theorie an einen Punkt, den ich schon in früheren Texten aufgegriffen habe und auf den ich auch hier hinaus will.
Jeder Mensch hat seine eigene Wirklichkeit, diese Wirklichkeit konstituiert sich aus dem Umfeld dieses Menschen, ist aber nicht notwendigerweise auch wahr. Wer mit Pegida marschiert, in der AfD ist und auch auf facebook nur unter seinesgleichen ist, entwickelt im Konsens mit diesem Umfeld seine ganz eigene Wahrheit. Die AfD in dieser Form, so lässt sich ungestraft behaupten, existiert überhaupt nur dank facebook, wo eigenbrödlerische Abweichler plötzlich Bestätigung durch ähnlich- oder gleichdenkende Spinner erhielten. Hierin liegt die Keimzelle der AfD, wie früher zum Beispiel Skin-Cliquen eine Radikalisierung durch Bestätigung zum Neonazismus forcierten oder wie heute auch entfremdete muslimische Jugendliche das tun, was gern als „Selbstradikalisierung im Internet“ bezeichnet wird – da sind wir wieder bei den vielgescholtenen Filter-Bubbles, in denen Opposition und Diskussion nicht mehr vorkommen, weil die Anbieter der Plattformen so besser Werbung verkaufen können.
Die Realität politischer Journalisten besteht nun dieser Tage oft daraus, jeden morgen erst einmal zu sammeln, wie viele Flüchtlingsheime die Nacht über mal wieder gebrannt haben und welcher AfD-Politiker wieder durch rassistische Ausfälle aufgefallen ist. Auch das konstituiert eine Wirklichkeit. Es bildet auch notwendigerweise nicht den Alltag der Menschen ab, sondern stellt vielmehr das Außergewöhnliche dar, das als pars pro toto interpretiert werden muss.
Hiervon profitiert politisch auch wieder vor allem eine Gruppe: die AfD-nahen und Pegidisten. Die FDP weiß ein Lied davon zu singen, dass sie nur dann gute Wahlergebnisse erwarten kann, wenn zuvor ständig über sie geschrieben wurde, ganz egal, ob im Guten oder Schlechten. Bei anderen Wahlen fällt sie völlig durch, weil niemand über sie redet.
Journalisten malen heute den Teufel an die Wand, weil die besorgten Angsthasen bei Prognosen auch auf Stimmen unentschlossener und frustrierter Wähler zählen können und in Regionen vordringen, die selbst SPD-Leute für ihre eigene Partei für realistisch halten, jedenfalls, wenn sie sich mal gruseln wollen. Gleichzeitig ist dies ein Paradox, da erst dieser Alarmismus gegenüber der AfD den Erfolg der AfD über den harten Kern der Pegidisten hinaus ermöglicht. Und genau darum hören wir wöchentlich neue Meldungen aus dem Alarmismushauptquartier an der Wolfsschanze: Um medial stattzufinden.
Und damit schließt sich bereits der Kreis: Fnord ist ein Kunstwort, dass im Windschatten der (Para-)Religion des Diskordianismus Popularität gewann. Es steht für die Konditionierung durch unser Umfeld, insbesondere durch Texte, die wir lesen. Es steht damit exemplarisch auch für Manipulation durch gezielte Information und Desinformation durch unser direktes und indirektes Umfeld, durch die Menschen und Medien, durch die wir unser Weltbild entwickeln und festigen. Und je häufiger in den Medien, die wir konsumieren, Kennworte, wie zum Beispiel „AfD“ auftauchen, desto höher ist die Relevanz, die wir diesen Kennworten und den dahinter stehenden Phänomenen beimessen. Würde man nicht jeden Tag über Flüchtlinge berichten, als handele es sich dabei um eine Naturgewalt und über immer neue Ausfälle der AfD, stattdessen vielleicht über die Abgaswerte von Automobilen deutscher Produktion und die Folgen der industriellen Agrarwirtschaft für unser Trinkwasser, in einem halben Jahr würden 80 Millionen Vegetarier durch Deutschland radeln, die sich keine Sorgen mehr über kriegsgeflüchtete Syrer machen. So funktioniert der menschliche Verstand nunmal. Die Flüchtlingskrise ist also, das hat man mit Blick auf die Äußerungen aus der Politik vermutlich bereits vermutet, nicht wirklich eine Flüchtlingskrise, sondern eine Krise des Verstands. Aktuell Meinung
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Eine Wahrheit vergisst der Autor: Migration kostet uns Geld, viel Geld. Diese Wahrheit ist keine Fiktion, sondern evident.
„Jeder Mensch hat seine eigene Wirklichkeit, diese Wirklichkeit konstituiert sich aus dem Umfeld dieses Menschen, ist aber nicht notwendigerweise auch wahr. “
Das gilt natürlich für jeden.
Und bei der Wirklichkeitsbilderzeugung und dem Abgleich, ob das Bild stimmen kann, spielt die soziale Umwelt eine bedeutende Rolle. Allerdings sagt die Größe dieser Umwelt (die Anzahl der Leute, die ein Bild teilen) auch nichts über Wahrheit aus.
Wie wir als Gesellschaft leben wollen, wie wir in der Welt Deutschland sein wollen, das ist keine Frage von Wahrheit oder Moral, das ist eine Frage deren Antworten in Diskussionen sich herausbildet – dazu muß aber die Meinung, daß „Keine Flüchtlinge“ für Deutschland besser sei, als akzeptable Meinung stehen können. Es geht nicht um Wahrheit sondern um Konsens.
Und wenn man soundsoviel Prozent der Leute mit weitreichenden Entscheidungen, die sie nicht mittragen überfährt, besteht dieser nicht.