Türkei-Vorschlag zur Flüchtlingskrise
Warum die EU Ankaras Forderungen akzeptieren sollte
Der Vorschlag der Türkei auf dem EU-Gipfel zur Bewältigung der aktuellen Flüchtlingssituation findet Befürworter und Kritiker. Während Merkel den Plan unterstützt, sperren sich andere Regierungschefs dagegen. Im Ergebnis gibt es aber keine bessere Option, als das türkische Angebot anzunehmen. Von Alexander Bürgin
Von Alexander Bürgin Donnerstag, 10.03.2016, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 10.03.2016, 17:39 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Beim jüngsten EU-Gipfel am 7. März überraschte der türkische Premierminister Ahmet Davutoğlu die EU-Regierungschefs mit einem Vorschlag, der die lebensgefährliche Flucht über das Mittelmeer drastisch reduzieren könnte. Denn die türkische Regierung erklärt sich bereit, alle Flüchtlinge, die an den griechischen Küsten stranden, wieder zurückzunehmen. Im Gegenzug sollen die EU-Staaten für jeden zurückgenommenen Syrier, einen syrischen Flüchtling aus einem der Flüchtlingslager in der Türkei aufnehmen.
Die Reaktion auf dem EU-Gipfel fiel ambivalent aus: Während die deutsche Bundeskanzlerin den Plan unterstützt, sperren sich andere Regierungschefs dagegen, Flüchtlinge aus der Türkei zu übernehmen. Was diese Regierungen allerdings offenbar übersehen: Wenn klar ist, dass jeder in Griechenland ankommende Flüchtling umgehend zurück in die Türkei geschickt wird, werden kaum noch Menschen die riskante Überfahrt von der Türkei nach Griechenland auf sich nehmen. Da somit mit nur wenigen Syrern zu rechnen ist, die die Türkei von Griechenland übernehmen muss, müssen die EU-Staaten im Gegenzug auch nur wenige Menschen aus den türkischen Flüchtlingslagern aufnehmen. Für Staaten, die sich einer europäischen Verteilung der Flüchtlinge verweigern, würde dieser Plan also wohl kaum neue Lasten abverlangen. Ihre Skepsis gegenüber dem Plan ist unangebracht. Für die Flüchtlinge hieße die Umsetzung des Plans allerdings, dass der Weg in die EU zunächst einmal versperrt ist.
Eine solche Maßnahme allein wäre schäbig für die EU. Daher haben die EU-Staaten schon im November 2015 vereinbart, die Türkei finanziell massiv zu unterstützen, damit in den türkischen Flüchtlingslagern Standards eingehalten werden, Flüchtlingskinder die Schule besuchen können und deren Eltern Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen. Die von der Türkei geforderte Aufstockung der Mittel um weitere drei Milliarden Euro sollte für die EU kein größeres Problem sein, wenn dafür die Zahl der neu ankommenden Flüchtlinge drastisch sinkt. Jedoch sollte die EU unabhängig davon, wie viele Syrer die Türkei von den griechischen Inseln zurücknimmt, darüber nachdenken, mehr Flüchtlinge von der Türkei zu übernehmen. Um die Ängste der Bürger vor dieser Herausforderung zu nehmen, sollte klar gemacht werden, dass der Schutz temporär ist und die Mehrheit der aufgenommenen Flüchtlinge nach dem Ende des Kriegs in Syrien nach und nach wieder dorthin zurückkehren müssen.
Neben der mangelenden Bereitschaft überhaupt Flüchtlinge aufzunehmen, äußerten einige Politiker und Kommentatoren Unmut darüber, auf zwei weitere Forderungen der Türkei einzugehen, die Visafreiheit für türkische Bürger und eine Beschleunigung des Beitrittsprozesses in die EU. Angesichts des problematischen Umgangs der türkischen Regierung mit der Pressefreiheit, halten es viele für falsch, diese Wünsche der Türken zu erfüllen. Allerdings: Ohne Ankara ist die Flucht über das Mittelmeer nicht zu stoppen. Und wenn die EU sich einem Deal mit der Türkei versperrt, wird sie viel weniger Einfluss auf die Entwicklungen des Landes nehmen können, als wenn neue Verhandlungskapitel eröffnet würden. Die Eröffnung weiterer Kapitle mag eine hohe symbolische Bedeutung haben, es heißt aber nicht, dass die EU bei den in diesen Kapiteln definierten Standards, etwa die Unabhängigkeit der Justiz und die Pressefreiheit betreffend, klein beigibt. Entscheidend ist nicht die Eröffnung weiterer Verhandlungskapitel, sondern deren Abschluss. Die EU kann weiterhin klarmachen, dass ein Kapitel nur abgeschlossen werden kann, wenn die Bedingungen erfüllt sind. Die EU sollte daher über ihren Schatten springen, und der Forderung Ankaras entsprechen.
Gleiches gilt für die geforderte Abschaffung der Visapflicht. Die EU-Kommission hat der Türkei jüngst große Fortschritte bei der Erfüllung der Bedingungen für die Visafreiheit bescheinigt, wenn auch noch nicht alle Kriterien vollständig erfüllt sind. Manche Regierungen sorgen sich, dass einige die Visafreiheit nutzen werden, um dauerhaft in der EU zu bleiben, anstatt nach Ablauf des Visums nach maximal 90 Tagen wieder auszureisen. Allerdings: Strafen wie langjährige Einreiseverbote dürften den Anreiz senken, dieses Risiko einzugehen. Ein anderes Argument gegen die Visafreiheit ist die Befürchtung, dass dies zu einem Anstieg von Asylbewerbern aus der Türkei führen könnte. Schnellere Verfahren könnten dem entgegenwirken: Wer keinen Anspruch auf Asyl hat, muss das Land umgehend wieder verlassen. Und sollte das Asylgesuch berechtigt sein – dann es ist die Pflicht Deutschlands, Asyl zu gewähren. Darüber hinaus würde der Wegfall der Visumspflicht wirtschaftliche Vorteile bringen, da mehr türkische Touristen Europa besuchen und Geschäftsbeziehungen erleichtert würden.
Beim nächsten EU-Gipfel am 17. und 18. März werden die EU-Staaten über das türkische Angebot entscheiden. Sie sollten sich einen Ruck geben und es annehmen. Eine bessere Option zur Bewältigung der Flüchtlingskrise ist nicht in Sicht. Aktuell Meinung
Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.
MiGGLIED WERDEN- Fachkräftemangel vs. Abschiebung Pflegeheim wehrt sich gegen Ausweisung seiner Pfleger
- „Diskriminierend und rassistisch“ Thüringer Aktion will Bezahlkarte für Geflüchtete aushebeln
- Verwaltungsgerichtshof Nürnberg muss Allianz gegen rechts verlassen
- Ein Jahr Fachkräftegesetz Bundesregierung sieht Erfolg bei Einwanderung von…
- Brandenburg Flüchtlingsrat: Minister schürt Hass gegen Ausländer
- Chronisch überlastet Flüchtlingsunterkunft: Hamburg weiter auf Zelte angewiesen
Der Weg, syrische Flüchtlinge aus der Türkei zu holen ist der richtige. Auch für eine Kostenregulierung zu sorgen ist der richtige Schritt.
Die Eröffnung weiterer Kapitel in den Beitrittsverhandlungen gibt die Chance die Menschenrechtsverletzung gezielt anzuprangern.
Sich aber auch auf eine Visafreiheit zu verständigen ist falsch. Die Anzahl illegaler Einreisen türkischer Staatsangehöriger ist weiterhin hoch. Die irreguläre Familienzusammenführung im Sinne von der Einreise ohne vorher das ordentliche Visaverfahren zu betreiben, der permanenten Nörgelei an Spracherfordernis lässt für mich nur den Schluss zu, dass eine Visafreiheit für die EU oder Deutschland zu viele Nachteile bringt.
Die EU hätte nicht Geld bieten sollen oder Visafreiheit, sondern mit Sanktionen drohen sollen, dann wäre es viel günstiger geworden. Die Türkei ist nach der Definition vieler in der Türkei lebenden Türken eine lupenreine Diktatur. Es wäre ein Schlag ins Gesicht für jeden freiheitlich-demokratisch orientierten Menschen in der Türkei ausgerechnet jetzt die türkische Regierung belohnen zu wollen.
Die EU sollte Prinzipien haben, die nicht verhandelbar sein dürfen. Bei diesem Türkei-deal verrät die EU alle seine Werte gleichzeitig.
ABER: der Türkei deal ist maßgeblich von Merkel ausgearbeitet worden und nicht von der EU. So muss man konstatieren dass Deutschland und die EU ihre Werte freiwillig und ohne Druck seitens der Türkei verraten… Der sog. Merkelplan war schon vo dem Gipfel ausgearbeitet worden und kam überhaupt nicht spontan von Davutoglu
Der Artikel blendet einige wichtige Punkte aus, der die Verhandlungen zwischen der EU und der Türkei inakzeptabel macht:
1) Die Rolle der Türkei im Syrien Konflikt.
2) Die Rolle der EU im Syrien Konflikt.
3) Die Menschenrechte der Flüchtlinge.
Die türkische Regierung ist wie die EU direkt mitverantwortlich für den Flüchtlingsstrom aus Syrien. Es ist kein Geheimnis, dass Erdogan als auch die USA mit der EU im Schlepptau das syrische Regime stürzen wollen, bereits bevor Assad Demonstrationen brutal niederschlug. Die Türkei unterstützt islamistische Terroristen im Kampf gegen Assad und die Kurden. Teile der EU bombardieren Syrien, verkaufen Waffen an die Saudis und sind damit integraler Teil eines Stellvertreterkriegs um die Vorherrschaft in Syrien, den es in dieser brutalen Form, in diesem Ausmaß und dieser hohen Anzahl von Flüchtlingen ohne äußere Einmischung nie gegeben hätte.
Der Kontext ist wichtige Voraussetzung dafür, um zu verstehen, dass sich weder die Türkei noch die EU sich ernsthaft für die Belange der Flüchtlinge und ihrer Rechte interessieren. Der Vorschlag der Türkei ist deswegen auch keine gute Option, die die EU annehmen soll, wie es der Autor vorschlägt. Im Gegenteil, die Türkei hat die gescheiterte Asylpolitik der EU zu ihrem Geschäftsmodell gemacht. Von Verhandlung zu Verhandlung treibt Ankara seinen Preis für die Abschottungspolitik der EU in die Höhe. Das es hierbei auch um Milliarden und um Begünstigungen der Türkei geht, sei geschenkt. Der Preis ist deswegen hoch, weil er zu Lasten der Geflüchteten geht und den letzten Rest von Asylrecht über den Haufen wirft.
Das interessiert den Autor alles nicht. Er rechnet Flüchtlingszahlen gegeneinander auf und glaubt, dass sich dadurch die Zahl der Flüchtlinge reduzieren würde und hält das deswegen ales für eine gute Option. Der Autor fragt sich nicht, ob das alles mit den Menschenrechten vereinbar ist, ob die Genfer Konventionen eingehalten werden und ob eine rechtsstaatliche Überprüfung der individuellen Fluchtgründe gewährleistet ist. Der Autor fragt sich nicht, we entscheidet, was als „illegale Einreise“ gilt, und welche EU-Länder eigentlich im Gegenzug die angeblich weniger werdenden Flüchtlinge aus der Türkei aufnehmen wird.
Flüchtlinge haben sich bisher durch nichts aufhalten lassen, sie werden sich neue Wege suchen, sie werden dafür ihr Leben riskieren, weil sie nichts zu verlieren haben, weil sie alles verloren haben und weil sie eine neue Existenz brauchen. Das ist inzwischen eine Binsenweisheit, die in den ökonomischen Berechnungen des Autors keine Berücksichtigung gefunden hat.
Würden die EU-Staaten an einem gemeinsamen Strang ziehen und zu ihrem viel beschworenen Menschenrechten stehen, würde die EU sich auf eine gemeinsame Asylpolitik verständigen, die menschenrechtlichen Standards genügt und die wirtschaftliche Stärke Europas berücksichtigt, dann müsste die EU jetzt nicht ihre Werte verhökern und der türkischen Regierung zum Billigpreis vor die Füße werfen.
Der Artikel ist aus Sicht der Menschenrechte und zwar nicht nur des Asylrechts eine einzige Farce.
Auf SPON gab es eine sehr gute Zusammenfassung darüber, was für eine Mogelpackung der Türkei-Deal darstellt und dass er aus rein logischen Gründen nicht funktionieren kann, ganz einfach weil der Plan nicht zur Lösung der Flüchtlingkrise beitragen sollte, sondern Frau Merkel damit Zeit erkauft, wegen der Landtagswahlen…
http://www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-warum-der-tuerkei-vorschlag-nicht-funktionieren-kann-a-1081905.html
Bei allem Stolz auf unsere in Europa etablierten Menschenrechte, so ist dringlichst davon abzuraten, diese mit ins Grab zu nehmen und leider sind diese auch nicht alternativlos…siehe Lepen, AfD, Orban etc.
Man hilft keinem Flüchtling und den hier lebenden Migranten, wenn die Rechtspopulisten gestärkt werden, ganz im Gegenteil…
Ich gebe Aloo Masala recht! Der Deal mit der Türkei ist ein schmutziger Deal. Allerdigns nehme ich unsere Kanzlerin aus der Schusslinie. Sie hat nun wirklich mehrfach versucht, die EU zu einem gemeinsamen Handeln zu bewegen. 2 Mio Flüchtlinge auf 500 Mio Unionsbürger im Jahr sind doch unproblematisch zu verkraften.
Es ist eine Schande, dass die EU hier nicht zusammensteht. Jetzt wo die Balkanroute dicht ist und die Türken die Grenzen zu Europa hüten ist Zeit erkauft. Momentan kommen weniger als 100 Flüchtlinge am Tag an der deutschen Grenze an.
Ich hoffe sehr, dass die EU tatsächlich ausreichend hohe Kontingente aus der Türkei übernimmt. Aber tatsächlich glaube ich, dass gerade die Ost-EU-Staaten sich weigern werden.