Anti-Roma-Märsche in Ungarn
Staat muss Anzeichen auf Hasskriminalität nachgehen
In Ungarn durften brutale Neonazis die lokale Roma-Bevölkerung ungehindert terrorisieren. Jetzt hat der Menschenrechtshof entschieden: Ungarn habe das Recht auf Privatleben der Roma verletzt, nicht aber ihr Recht auf menschliche Behandlung. Von Maximilian Steinbeis
Von Maximilian Steinbeis Mittwoch, 13.04.2016, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 19.04.2016, 0:37 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Gyöngyöspata ist ein kleines Kaff im Norden von Ungarn, das absolut überhaupt keine Aufmerksamkeit verdienen würde, wäre es nicht 2011 zum Schauplatz eines der übelsten rassistischen Vorgänge unserer Zeit geworden: Über Wochen hielt dort ein uniformierter Mob rechtsextremer Milizionäre dort Märsche ab, um die lokale Roma-Bevölkerung zu terrorisieren und in Angst und Schrecken zu versetzen. Als wäre das nicht schon schlimm genug, konnte obendrein die örtliche Polizei beim allerbesten Willen keinen Grund zum Einschreiten entdecken. Über Ostern 2011 flohen Hunderte Romas aus Gyöngyöspata aus ihren Häusern, weil in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft paramilitärische Neonazis der allerhärtesten Sorte ein Bootcamp errichtet hatten und dort „Übungen“ abhalten wollten. Für diese vom ungarischen Roten Kreuz organisierte Evakuation hatte die ungarische Regierung nur Spott übrig.
Video: Der Verfasser empfiehlt mit großem Nachdruck, sich das Video anzusehen (Untertitel aktivieren).
Am Dienstag hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Ungarn festgestellt, dass Ungarn das Recht auf Privatleben (Art. 8 EMRK) der Roma von Gyöngyöspata verletzt habe, nicht aber ihr Recht, vor unmenschlicher und erniedrigender Behandlung (Art. 3) geschützt zu werden.
Zunächst zu Art. 8: Das Persönlichkeitsrecht, so der EGMR, sei verletzt, wenn man rassistischer Hate Speech und Einschüchterung ausgesetzt ist. Den Staat treffe die positive Verpflichtung, nicht nur generell das Nötige zu tun, um Menschen auch vor Verletzungen durch andere Menschen zu schützen, sondern auch dem begründeten Verdacht auf rassistische Motive nachzugehen, wenn Menschen aufeinander losgehen. Das gilt – und das ist neu – auch dann, wenn der Konflikt noch unterhalb der Schwelle tatsächlicher Gewalt abgelaufen sei, ab der man sich im Bereich des Art. 3 bewegt.
Mit anderen Worten: Hassverbrechen müssen ab sofort als Hassverbrechen untersucht und verfolgt werden.
Die Untätigkeit der Polizei während der Märsche von Gyöngyöspata scheint dem Gerichtshof dagegen kein Verstoß gegen Art. 8 zu sein. Das sei Ermessenssache gewesen.
Den anderen möglichen Rechtsmaßstab, das Verbot von unmenschlicher und erniedrigender Behandlung (Art. 3), hält der Gerichtshof mehrheitlich nicht für einschlägig: Anders als etwa im Fall der katholischen Schulkinder in der Ardoyne Road in Belfast 2001 oder der Gay Pride Marches in Georgien 2012 sei den Roma von Gyöngyöspata ja am Ende nichts passiert.
Der polnische Richter Krzysztof Wojtyczek kritisiert das in seinem Minderheitsvotum: Ethnischer Diskriminierung ausgesetzt zu sein, könne sehr wohl als erniedrigende Behandlung gelten, daher sei Art. 3 der richtige Aufhänger hier. Der Begriff des Privatlebens in Art. 8 werde dagegen von der etablierten Rechtsprechung des Gerichtshofs zu konturenlos ausgelegt und sollte seiner Meinung nach für Fälle reserviert bleiben, wo es um die Autonomie und Geheimhaltung von Privatangelegenheiten geht, nicht um den Schutz ethnischer Identität.
Vielleicht steckt hinter dieser Alternative zwischen Art. 8 und 3 more than meets the eye, das kann ich im Augenblick nicht beurteilen. Ad hoc würde ich sagen, dass mir die Ansiedelung bei Art. 8 schon einleuchtet: Art. 8 schützt mich davor, von der zudringlichen Gesellschaft an die Wand gequetscht und in meiner Entfaltung als Person behindert zu werden. Das werde ich, wenn ein Teil der Gesellschaft mich mit Hate Speech überzieht und der Rest der Gesellschaft achselzuckend zuschaut, und zwar nicht erst, wenn ich so am Boden liege, dass mein Schicksal dem eines verprügelten Gefangenen vergleichbar ist. Ob zu meiner Entfaltung als Person meine „ethnische Identität“ notwendig dazugehört oder nicht, ist eine ganz andere Frage. Art. 8 auf Fälle von „Geht euch nichts an“ zu beschränken, wäre mir entschieden zu eng. Leitartikel Meinung
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