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Zeitzeuge im Gespräch

Leon Weintraub: „Ich bin ein verschworener Optimist“

Leon Weintraub hat zahlreiche deutsche Konzentrationslager überlebt. Zum 72. Jahrestag der Befreiung kehrt er nach Auschwitz zurück. Seine Botschaft: Das Schlimmste ist das Vergessen.

Von Freitag, 27.01.2017, 4:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 01.02.2017, 21:22 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

MiGAZIN: Herr Weintraub, was geht in Ihnen vor, wenn Sie nach hier Auschwitz zurückkommen?

Leon Weintraub: Ich habe keine emotionalen Regungen, weder Erschrecken noch Trauer. Das soll aber nicht bedeuten, das ich gefühllos bin. Es gibt einige Orte, die in gewissen Momenten starke Regungen erwecken. Zum Beispiel, wenn ich die Barracken sehe, wo meine Schwestern untergebracht waren. Aber ich bin ein rationaler Mensch. Manchmal nehme ich kaum wahr, dass ich wirklich mit dabei war.

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Was hat ihnen geholfen, das Erlebte zu überwinden?

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Leon Weintraub: Das war die Lebensfreude, das Riechen, Schmecken, Sehen, Hören, Bewegen. Das ist fast schon mein Schlagwort geworden: Die Intensität des Jetzt muss so stark sein, dass sie im Stande ist, diese Erlebnisse zu überdecken, ohne sie zu verdrängen. Es soll keine schwarze Wolke über dem Kopf sein, die die Sonne abschirmt.

Haben Sie das Gefühl, dass sich die Art und Weise, wie wir uns heute an die NS-Verbrechen erinnern, verändert hat?

Dr. Leon Weintraub, 91, lebt mit seiner Familie ab 1939 im Ghetto in Lodz. Im August 1944 wird er mit seiner Familie nach Auschwitz-Birkenau deportiert, seine Mutter wird nach der Ankunft vergast. Es folgen weitere Konzentrationslager. Nach Kriegsende wird Weintraub Frauenarzt, praktiziert in Polen und migriert 1969 infolge des zunehmenden Antisemitismus nach Stockholm in Schweden, wo er heute noch lebt.

Leon Weintraub: Ich finde große Offenheit und Neugier vor bei den jungen Leuten. Ich würde aber gerne mal mit einer Gruppe NPD-Leute sprechen, um ihre Gedankengänge zu erfahren.

Was würden sie Ihnen sagen?

Leon Weintraub: Dass wir zu allererst als Menschen geboren werden. Und dass es nach allem heutigen Wissen keine Menschenrassen gibt. Wir sind eine Menschengattung, wir haben die gleiche DNA. Und Schluss. Unser Globus ist ein ein Krümelchen im Weltall und dann wird der noch unterteilt in Tausende verschiedene Gruppen, die sich gegenseitig anfeinden. Das ist doch Wahnsinn!

Und trotzdem werden rechtspopulistische Strömungen stärker, zum Teil auch mit Parolen aus der NS-Zeit. Was empfinden Sie dabei?

Leon Weintraub: Das macht mich traurig. Es tut mir Leid, dass so etwas noch vorkommen kann. Es ist kaum ein Geschehen in der Welt so wohl dokumentiert, wie der zweite Weltkrieg. Das einzige Land in Europa wo so konsequent und unerbittlich daran festgehalten wird, nichts unter den Teppich zu schieben, ist Deutschland.

Trump, Brexit, Rechtspopulismus in Europa. Viele antworten auf die Probleme der Globalisierung mit einem neuen Nationalismus. Wenn sie die aktuellen politischen Entwicklungen beobachten, könnte sich so etwas wie die NS-Herrschaft wiederholen?

Leon Weintraub: Ich bin ein verschworener Optimist. Und da diese Gruppe Minoritäten sind – zum Glück – bin ich überzeugt, dass die Demokratie stärker ist in der Mehrzahl der Länder. Auch wenn es Ausnahmen gibt, wie in Ungarn oder auch Polen. Aber sie sind ja noch in der europäischen Gemeinschaft und es gibt keine deutliche Bewegung, aus der EU auszutreten.

Sie erzählen seit geraumer Zeit in Schulen und anderen Einrichtungen, was ihnen widerfahren ist. Was treibt sie an?

Leon Weintraub: Es macht mir keinen Spaß. Aber es ist eine Genugtuung, dass ich vielleicht wieder eine Gruppe junger Menschen – vor allem in Deutschland – beeinflusst habe, den Holocaust anders zu sehen als nur durch Angelesenes. Die Berührung mit einem Menschen, der das selbst erlebt hat, die kann rein psychologisch einen gewissen Einfluss ausüben.

Warum ist das Gedenken auch heute noch so wichtig?

Leon Weintraub: Es soll eine Warnung und Mahnung sein, um alle Kräfte daran zu setzen, Strömungen, die in diese Richtung gehen, zu stoppen. Das war gegen die Menschenwürde. So etwas soll und kann nicht wiederholt werden. Vor einigen Tagen hat der Leiter der AfD in Thüringen gesagt, man solle die Geschichte um 180 Grad wenden und das Positive und Ruhmreiche der deutschen Geschichte unterstreichen. Aber das Vergessen wäre eine Ohrfeige an die Überlebenden, die das mitgemacht haben. Feuilleton Interview Leitartikel

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  1. Überzeugte AFD-Wählerin sagt:

    Die Rede von Höcke war dämlich. Gar keine Frage. Man sollte dem rechten Flügel der AFD auch nicht uneingeschränkt vertrauen. Das sind machthungrige Leute, die man besser mit der Zange anfassen sollte. Ich finde Menschen, die einen geistig vereinnahmen wollen, jedenfalls beängstigend.

    Höcke ist freilich nicht besser als seine Gegner: Er glaubt wie diese an Feen, Gnome, Waldwesen, Zauberer, Zwerge im Teuroburger Wald und an die Mär, dass Politik und Kapitalismus „anständig“ sein können. Alle deutschen Politiker wollen sich selbst gefallen, ethisch überlegen sein. Ihre Klientel macht begeistert mit. Das ist typisch deutsch und nicht unbedingt ein Kennzeichen der Rechten.
    Etwas mehr südländischer Realismus à la Italien wäre gesünder. Je mehr die Leute wissen, dass Moral eine äußerst fragwürdige Kategorie in der Politik ist, umso weniger lassen sie sich anlügen, desto wacher sind sie. Moral nützt überhaupt nichts, wenn nicht gleichzeitig Solidarität und Mitgefühl gepflegt wird. Wenn Mitgefühl und Solidarität fehlen, wird der Mensch nur noch nach seinem „Wert“ beurteilt. Ist dann jemand arbeitslos oder lebt er in prekären Verhältnissen ist er „unwert“, auch in moralischer Hinsicht.
    Das hat per se nichts mit rechtem Denken zu tun. Es ergibt sich vielmehr aus den kulturellen Normen einer Marktwirtschaftsdemokratie. Der Mensch in einem prekären Verhältnis wird nach seinem „Nutzen“ beurteilt, so wie alle anderen auch. Sein Problem liegt darin, dass er erfolglos und damit unnütz ist. Was macht derjenige, der betroffen ist? Ja klar: Er wehrt sich nicht, sondern er verinnerlicht diese Werte nur noch mehr, so sehr, dass er zu „treten“ beginnt und um ein Vielfaches schlimmer wird als seine Umgebung. So beginnt das mit dem so genannten „rechten Gedankengut“. Hat der Mensch dann im Extremfall Hunger, ist er obdachlos oder ungebildet, kann man sich ja vorstellen, was geschieht. Insofern sollten die Damen und Herren im selbsternannten demokratischen Lager nicht zu hochmütig sein. Wie würden sie reagieren, wenn sie vollkommen ohnmächtig wären? Wenn ihnen alles genommen würde? Wenn sie keine Zukunftsperspektiven hätten? Wenn sie idealistisch erzogen worden wären und ihre Ideale in der Welt nicht wiederfinden würden? Antwort: Sie würden voller Zuversicht in die Zukunft blicken, frei nach dem Motto „yes we can“ – „wir schaffen das“.

    Meine Meinung lautet: Verabschiedet Euch vom „Menscheln“ und Moralisieren, macht eine verantwortungsvolle Politik. Eine kontrollierte Zuwanderungspolitk ist das Gebot der Stunde. Je weniger Zuwanderer nach Deutschland kommen, umso weniger können innergesellschaftliche Verteilungskämpfe entstehen.
    Wenn die selbsternannten demokratischen Parteien diese Maxime verfolgen würden, würden sie der AFD wirksam das Wasser abgraben. Deutschland muss kein (Massen-)Einwanderungsland sein. In den 70er Jahren gab es eine bedeutende Rückwanderung v.a. von Spaniern und Italienern. Niemand hat sich daran gestört. Ich glaube auch nicht, dass eine kontrollierte Zuwanderung ex ipso „rechts“ ist. Wenn das der Fall wäre, wären die USA ultra-rechts, denn die nehmen pro Jahr nur 80000 syrische Flüchtlinge auf, obwohl sie viermal mehr Menschen haben als die BRD und weitaus mehr in die Kriege im Nahen Osten verstrickt sind. Deutschland müsste sich keineswegs schämen, wenn es seine Grenzen dicht machen würde. Es hat mehr getan als ganz Europa zusammen und das ist nicht einmal eine Lüge!

    Was die Moral der selbsternannten demokratischen Politiker anbelangt, möchte ich lediglich auf einen gewissen deutschen Politiker hinweisen, der sich mit einem gewissen Mao traf, einem millionenfachen Massenmörder. Hat sich damals jemand empört? Nein. Mit Mao-Mao-Rufen liefen die Studenten durch die Straßen, während anderswo Millionen verhungert waren. Und waren es nicht deutsche Firmen, die im Vietnamkrieg die USA belieferten? Hat sich da jemand empört?

    Man kann und soll den Geschichtsunterricht auf die Jahre zwischen 1933 und 45 konzentrieren. Unbedingt. Das ersetzt aber nicht solide Kenntnisse der allgemeinen deutschen und europäischen Geschichte sowie der Weltgeschichte. Junge Menschen müssen wissen, woher sie kommen und wohin sie gehen, worauf sie stolz sein können und worauf nicht. Wissen Sie über ihre Vergangenheit nichts oder nur Oberflächliches, wird man sie leicht anlügen können.
    Versucht man deshalb im Geschichtsunterricht ganze Epochen in kürzester Zeit abzuhandeln? Soll ein bestimmtes Geschichtsbild gepflegt werden und nur das und sonst kein anderes? Ich weiß es nicht.

    Wie will man Schüler z.B. für die Zeit der 1920er Jahre sensibilisieren, wenn ihnen nicht klar gemacht wird, was echte Arbeitslosigkeit und elementare Not bedeuten? Wenn sie nicht wissen, was es bedeutet, in einer Klassengesellschaft zu leben, in der es „oben“ und „unten“, Menschen und „Nichtse“ gibt? Ist das bedeutungslos? Und hilft uns das weiter, diese durchaus wichtigen Aspekte in einer neuen, angehenden Weltwirtschaftskrise unterschweillig als einigermaßen unerheblich hinzustellen?

    Und welchen Sinn hat es, Schülern das 3. Reich nahezubringen, wenn sie es nicht in einen Gesamtzusammenhang einordnen können? Wie will man Schülern mit marodem Identitätsgefühl die eigene Geschichte nahebringen? Wie will man eigentlich ein positives Verhältnis zur Demokratie und zum Staat an sich entwickeln, wenn man die deutsche Geschichte unter rein negativen Gesichtspunkten betrachtet? Es ist ja nicht so, dass es erst nach 1949 das allgemeine Wahlrecht, die Sozialversicherungen oder das BGB gegeben hätte.

    Noch etwas Wichtiges: Trump hat es doch vorgemacht, Le Pen macht es vor, Orban hat es vorgemacht und die AFD ist auch dabei. Sie hören auf den „kleinen Mann“. Wie will man diesen „kleinen Mann“ erreichen, wenn man ihn missachtet, ihn als lästiges Stimmvieh betrachtet, ohne sich daran zu erinnern, dass er eine Macht im Staat ist? Denn letztlich kann man nichts daran ändern, dass wir eine Volksherrschaft sind und kein neoliberaler Elitenclub. Interessensgrüppchen, Minderheiten, Außenseiter, Parteien, Verwaltungen, Medienführer, Religionsvertreter, Manager, Banker, Wohlstands- und Sonnenscheinmenschen können an diesem Sachverhalt nichts, aber rein gar nichts ändern. Hört dem „kleinen Mann“ zu, macht Politik für ihn und das rechte Problem ist beseitigt. Wenn Ihr das nicht tun wollt, zu überheblich seid oder es nicht tun könnt, dürft Ihr Euch nicht beschweren, dass Ihr nichts im Griff habt. Millionen werden sich abwenden. Trump, Le Pen, Orban, Petry und Wilders kommen ja nicht aus dem nirgendwo. Das sind ja keine Marsmenschen. Das hat ja Ursachen. Ja worin liegen diese Ursachen? Wieso ist z.B. fast die gesamte Arbeiterschaft Frankreichs zum Front National übergelaufen? Weil sie glaubt, von offenen Arbeitsmärkten profitieren zu können? Weil sie glaubt, etwas von „Toleranz“ und „Weltoffenheit“ haben zu können? Das sind ja Leute, die ja eben nicht konservativ oder rechts sozialisiert worden sind. Wieso werden die „rechts“? Weil die Linken für sie Politik machen, für das französische Volk, für das amerikanische Volk, für das deutsche Volk, für das ungarische Volk? Weil sie begriffen haben, was Volksherrschaft ist? Weil die Linken begriffen haben, dass Demokratie für das eigene Volk und eben nur für das eigene Volk gemacht wird, weil das Volk die Seele der Demokratie ist?