Visa für Aleppo
Die Perversionen des europäischen Flüchtlingsregimes
In Europa kann nur Asyl beantragen, wer sich auf europäischem Boden befindet. Auf legalem Weg kommt ein Syrer, Afghane oder Iraker dort aber nicht hin. Diese Perversion will ein Rädchen im großen europäischen Justizmotor nicht mehr mitspielen. Von Maximilian Steinbeis
Von Maximilian Steinbeis Donnerstag, 09.02.2017, 4:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 09.02.2017, 17:49 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Es gehört zu den großen Perversionen des europäischen Flüchtlingsregimes, dass es die Flüchtlinge, die hier Schutz bekommen, quasi automatisch zu Rechtsbrechern macht. Man kann noch so akut von Tod und Folter bedroht sein – Asyl kann nur beantragen, wer sich bereits im Hoheitsgebiet eines EU-Mitgliedsstaats befindet. Dort kommt man aber, wenn man aus Aleppo kommt oder aus Mossul oder aus Kunduz, auf legalem Weg nicht hin. Man kann sich, einmal angekommen, als der schutzberechtigtste Mensch der Welt herausstellen. Aber auf dem Weg dahin muss man sich erstmal notwendig zum Illegalen gemacht haben. Man hat vielleicht das Recht auf Schutz, aber man hatte kein Recht zum Grenzübertritt. Jeder, der hier Schutz will, kommt bereits als Rechtsbrecher hier an, hat sich einzureihen in das Angstbild der besorgten Bürger von der abgerissenen Migrantenmasse der Verzweifelten, der rechtlich Unkanalisierbaren, der inhärent Bedrohlichen.
Zumindest ein Rädchen im großen europäischen Justizmotor will diese große Perversion nicht mehr mitspielen. Ob es ihm gelingt, sie am Ende zu stoppen, ist noch offen. Aber immerhin. Die am Dienstag veröffentlichten Schlussanträge des Generalanwalts beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg, Paolo Mengozzi, sind ein Dokument, von dem wir noch lange reden werden, ob sie es nun in die amtlichen Urteilsgründe schaffen oder nicht.
In dem Fall geht es um eine Familie aus Aleppo, deren Vater von einer Terrorgruppe entführt und gefoltert worden war und die wegen ihres christlich-orthodoxen Glaubens in der verwüsteten Stadt ihres Lebens nicht mehr sicher sein konnte. Die Grenzen zu den benachbarten Ländern sind zu, bleiben können sie nicht – also beantragen sie in Beirut in der belgischen Botschaft ein Visum, um nach Belgien zu fliehen. Das wurde abgelehnt: Wer Asyl beantragen will, dem wird nicht geglaubt, dass er nach Ablauf des Visums wieder ausreist.
Ist Belgien bei der Entscheidung, wem es Visa erteilt und wem nicht, überhaupt durch europäisches Recht in seinem Beurteilungsspielraum beschränkt? Das ist es nach Ansicht von Generalanwalt Mengozzi in der Tat. Jedenfalls müssen die belgischen Behörden dabei die EU-Grundrechtecharta beachten, die in Art. 4 verlangt, niemanden der Gefahr von Folter oder unmenschlicher Behandlung auszusetzen. Was Mengozzi verlangt, ist nicht unbedingt ein Fern-Asylverfahren, aber doch ein Offenhalten der Visaerteilung für Extremfälle: Wenn wie in diesem Fall wirklich klar ist, dass man von unmenschlicher Behandlung schwerster Art unmittelbar bedroht ist und ohne Visum um sein Recht auf internationalen Schutz gebracht würde, dann muss Belgien das Visum erteilen. Irgendeine Beziehung zu Belgien müsse der Geflüchtete nicht vorweisen: Die Grundrechtecharta kenne kein Prinzip der Territorialität.
Ob das im Detail alles europarechtlich unbedingt zwingend ist, mögen Kundigere beurteilen. Meine Vermutung wäre, dass Mengozzi diese Schlussanträge zumindest auch als Appell an die EU-Mitgliedsstaaten intendiert hat, dass sie so einfach nicht weitermachen können.
Es ist in meinen Augen ausschlaggebend, dass in diesem Moment, da Grenzen geschlossen und Mauern errichtet werden, die Mitgliedsstaaten nicht vor ihrer Verantwortung davonlaufen, die sich aus dem Recht der Union oder, wenn mir diese Ausdrucksweise erlaubt ist, von ihrer und unserer Union ergibt, 1
schreibt der Generalanwalt zu Beginn in Anspielung auf Trump.
In der Randnummer 157 wird Belgien, stellvertretend für alle EU-Mitgliedsstaaten, geradezu zum Angeklagten und Mengozzi zum Staatsanwalt:
Welche Alternativen, um das ganz klar auszusprechen, stünden denn den Klägern zur Verfügung? In Syrien bleiben? Unvorstellbar. Sich unter Lebensgefahr skrupellosen Schleusern ausliefern und die Küsten Italiens oder Griechenland zu erreichen suchen? Unerträglich. Sich damit begnügen, illegale Flüchtlinge im Libanon zu werden, ohne Perspektive auf internationalen Schutz, sogar unter dem Risiko, nach Syrien zurückgeschoben zu werden? Unzulässig. 1
Ob der EuGH den Mut aufbringen wird, Mengozzi zu folgen? Was dann los wäre, kann man sich vorstellen. Einstweilen aber besteht der Wert dieser Schlussanträge darin, aktenkundig zu machen, wie sehr die Mitgliedsstaaten mitsamt ihrer heiligen Souveränität über ihre Grenzen versagt haben. Sie haben versagt im Angesicht der Menschheitskatastrophe von Aleppo. Sie haben sich, über folgenloses Händeringen und Zeigefingerschwenken hinaus, ihrem Anteil an einer gerechten Verteilung der Verantwortung verweigert. Sie daran zu hindern, dazu ist das Europarecht da – sofern es die Kraft dazu noch aufbringt.
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