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Belgien © Francisco Osorio @ flickr.com (CC 2.0), bearb. MiG

Belgien

War es nicht höchste Zeit für Integration?

Brüssels gescheiterte Integrationspolitik kam nach den Terroranschlägen im vergangenen März zu trauriger Berühmtheit. Heute, ein Jahr nach dem Schock, beobachtet unsere Autorin, wie viele Probleme weiterhin im System verankert sind.

Von Mittwoch, 22.03.2017, 4:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 29.03.2017, 10:58 Uhr Lesedauer: 8 Minuten  |  

„Wach endlich auf, Belgien!“. Mit seinem Appell sprach der belgische Schriftsteller David Van Reybrouck nicht nur mir als Wahlbrüsselerin, sondern sicher auch vielen seiner Landsleute aus der Seele. Damals, Ende März 2016, stand das Land unter dem Schock zweier Terroranschläge. Nur vier Monate zuvor hatten die Spuren der Attentäter von Paris die Ermittler in Brüssels Problemviertel geführt. Warum sich gerade hier so viele junge Männer radikalisierten, das fragte sich seitdem die ganze Welt.

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Reybrouck hielt der Politik damals vor, was noch heute gilt: In wenigen EU-Ländern ist die Kluft zwischen Schülern mit und ohne Migrationshintergrund so groß wie in Belgien. Kaum irgendwo in der EU haben es Menschen mit Migrationshintergrund bei der Arbeitssuche so schwer. Aus keinem anderen EU-Land gingen so viele Kämpfer nach Syrien. „Was ist da los?“, fragte Reybrouck, „hat das niemand bemerkt?“

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Natürlich waren die Zahlen der belgischen Politik bekannt. Und wer konnte ein größeres Interesse daran haben, seine Integrationspolitik zukunftsfähig zu machen als das tief verwundete Belgien? Dennoch ist seitdem nicht viel passiert. Und das, obwohl kaum ein Zeitpunkt dringender wäre als der heutige, wo das Land seit Beginn der Flüchtlingskrise noch viel mehr Menschen aufzunehmen hat als bisher.

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„Natürlich haben die Ereignisse letztes Jahr und die Flüchtlingskrise die Aufmerksamkeit für das Thema gesteigert. Und die Ambition, etwas zu tun“, sagt Marc De Vos, Direktor der belgischen Denkfabrik Itinera. Der Harvard-studierte Experte für Arbeitsrecht ist seit Langem ein Kenner und Ermahner der belgischen Politik. Sein Büro ist nur einen Steinwurf vom belgischen Parlament entfernt. „Leider haben sich viele das mit der Integration zu leicht vorgestellt. Die bisherigen Maßnahmen reichen nicht aus, und sie haben bisher keinen großen Effekt gehabt. Es gibt einfach einen zu großen Rückstau, zu viel Aufholbedarf, nachdem sich hier über Jahrzehnte fast schon ‚verlorene Generationen‘ entwickelt haben“.

Wie beginnt erfolgreiche Integration? Man könnte sagen: Damit, dass ein Mensch ein Zuhause findet, in dem er würdevoll leben kann. Von dem aus er sich ein soziales Umfeld aufbauen und die Landessprache lernen kann. Genau hier beginnen für die meisten Neuankömmling die ersten Probleme.  So zum Beispiel für Mustafa. Der 26-jährige aus der besetzten Stadt Mossul im Irak kam 2015 über die Balkanroute nach Belgien. Er war geflohen, nachdem ihn Kämpfer des „Islamischen Staats“ um ein Haar getötet hätten – zur Strafe, weil er sich der Terrorgruppe nicht freiwillig angeschlossen hatte. Nach seiner Anerkennung als Flüchtling schickte man ihn auf Wohnungssuche.

Mustafa hatte das Glück, auf eine ehrenamtliche Helferin zu stoßen, die sich wie viele Belgier damals privat für Geflüchtete engagierte. Mit ihrer Hilfe bewarb er sich in meiner Wohngemeinschaft auf ein Zimmer. Seine Helferin war begeistert von diesem alten aber sauberen Haus. „Ihr könnt euch nicht vorstellen, in welchem Zustand die Wohnungen sind, die den Flüchtlingen angeboten werden. Ich möchte nicht, dass er so leben muss“. Was an einer WG wie der unseren außerdem perfekt schien: Hier gab es sieben berufstätige Mitbewohner aus ganz Europa, ein soziales Umfeld. Und ein WG-Zimmer schien die günstigste Wohnform überhaupt. Aber die für die finanzielle Unterstützung zuständige Behörde sah das anders: Zöge Mustafa bei uns ein, so würden seine Zuwendungen von 867 Euro auf 578 Euro gekürzt. Das Gesetz behandelt WGs an der Wirklichkeit vorbei wie eine große, solidarische Familie, in der jeder den anderen unterstützt, nicht wie eine Möglichkeit, Menschen bezahlbare Unterkunft zu verschaffen. Von weniger als 600 Euro aber lässt sich in einer teuren Stadt wie Brüssel schwer leben.

Beim flämischen Vluchtelingenwerk kennt man das Problem: „Der Wohnungsmarkt ist eines der drängendsten Themen, denen sich die Politik widmen sollte, wenn sie mehr für Integration tun will“, sagt Charlotte Vandycke, Direktorin des flämischen Flüchtlingswerks. Es gibt einfach nicht genügend bezahlbaren Wohnraum – wie soll ein Immigrant so Fuß fassen? „Selbst für Belgier mit geringem Einkommen ist es schwer, etwas zu finden. Flüchtlinge sind noch schlechter dran”. Die angespannte Lage öffnet die Türen für ausbeuterische Angebote von Hausbesitzern. Zwar gibt es Mindeststandards dafür, wie Wohnraum auszusehen hat, aber die Behörden sind überfordert und können diese häufig nicht überprüfen. „Noch schlimmer wird die Lage dadurch, dass das Gesetz Wohngemeinschaften benachteiligt“, so Vandycke. „Wenn sich mehrere Leute zusammentun, um überhaupt etwas Bezahlbares zu finden, verlieren sie einen großen Teil der staatlichen Hilfen. Aber kleine Wohnungen für Einzelpersonen sind Mangelware und „die Preise steigen und steigen”.

Dabei wäre es gar nicht so schwer, Druck vom Wohnungsmarkt zu nehmen, meint Vandycke: „Die Regierung könnte beispielsweise in Modulhäuser investieren, die schnell und günstig zu bauen sind und eine angemessene Wohnqualität bieten“. Auch könne man das Gesetz so gestalten, dass es für normale Bürger leichter wird, ein Zimmer oder einen ausgebauten Dachboden zu vermieten. „Bisher ist das eine rechtlich und bürokratisch schwierige Prozedur“, sagt Vandycke. Auch könnte man den Betroffenen mehr Zeit geben bevor sie nach ihrer Anerkennung als Flüchtling das Asylantenheim verlassen müssen. Oder Plätze in Übergangswohnheimen schaffen für Geflüchtete, die auf Familienzusammenführung warten. „Die Regierung lässt viele Möglichkeiten, die wir haben, ungenutzt verstreichen!“.

Mustafa konnte nur bei uns einziehen, weil wir die Hälfte seiner Miete übernahmen. Aber wohin gehen die, denen kein Privatmann hilft? Mustafa erzählt mir von einem Freund, der in einem Zimmer ohne Fenster wohnt. Das Haus sei in sehr schlechtem Zustand. Als ich frage, ob ich mir das einmal ansehen dürfe, verneint er. „Mein Freund hat Angst, weil ich ihm gesagt habe, dass du Journalistin bist“, erklärt er. „Er fürchtet sich vor dem Vermieter. Er braucht doch diese Unterkunft.“

Was gehört noch zu erfolgreicher Integration? Dass der Neuankömmling schnell in den Arbeitsmarkt integriert wird. Auch hier hinkt die Politik der Realität hinterher, so Marc de Vos. „Bis vor wenigen Jahren hat die belgische Politik das Thema der wirtschaftlichen Integration total vernachlässigt. Mit dem Resultat, dass es bis heute unter den Immigranten sehr wenig soziale Mobilität gibt. Wir haben eine gesellschaftliche Gruppe marginalisiert“, erklärt De Vos. Er und seine Denkfabrik haben eine große Zahl von Studien zur Arbeitsmarktintegration der Immigranten ausgewertet und in einem vielbeachteten Bericht zusammengefasst. Dabei kommen sie zu einem verheerenden Schluss: „Für nicht-europäische Einwanderer, die auf dem Arbeitsmarkt aktiv sein wollen, ist Belgien statistisch gesehen das schlechteste Zielland überhaupt in Europa“.

Zwar lobt er die Anstrengungen der Regierung, die Anerkennungsprozesse für Neuankömmlinge zu beschleunigen. Aber noch immer verliere man viel Zeit, weil das System einen Ablauf in Phasen vorsieht: die Anerkennung als Flüchtling, das Erlernen der Sprache, die staatsbürgerliche Integration und den Zugang zu Arbeit. „Bis jemand dieses Kaskadensystem durchlaufen hat, ist es oft zu spät. Alle Studien zeigen, wie wichtig es ist, dass jemand schnell wieder arbeitet, und sei es nur ein paar Stunden pro Woche. Deshalb müssen die genannten Etappen von Anfang an parallel laufen. Nacheinander verlängern sie den Prozess der Integration, statt ihn zu verkürzen”, so De Vos.

Die Integration werde außerdem dadurch erschwert, dass die Daten der neuen Mitbürger ungeordnet und nicht ausreichend erhoben werden. „Meten is weten“ – Messen ist Wissen, so hat Voss ein Kapitel in seinem Bericht überschrieben. Und Belgien wisse zu wenig, weil es die Daten der Neuankömmlinge nicht angemessen zusammentrage, zwischen den Behörden austausche und verwerte. Er schlägt deshalb vor, dass es zentrale Kontaktpunkte für Geflüchtete geben soll, von denen aus alle weiteren Etappen geregelt werden. „Etwas Vergleichbares wird mit den mobilen Pop-Up-Schaltern in Antwerpen schon praktiziert“. Auf diese Weise führe nicht jede Behörde ihre eigene Statistik – oder gar keine – und man könne besser und schneller ein Profil der Neuankömmlinge erstellen, so De Vos. Den Menschen werde außerdem ein oft zäher Behördenmarathon erspart. Es sei schließlich ein altbekanntes Phänomen, dass gerade Menschen in einer prekären Lebenslage von den öffentlichen Einrichtungen nur schwer erreicht werden. Mustafa bestätigt, ohne die Hilfe einer Ehrenamtlichen wäre er aufgeschmissen gewesen. Fast alle Informationen, die er bekam, waren auf Französisch oder Niederländisch. Selten gab es Übersetzer.

„Die Situation der Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt ist in unserem Land dermaßen düster, dass man wirklich von einer Notsituation sprechen kann, die entsprechende Maßnahmen erfordert“. De Vos kann sich deshalb auch Lohnsubventionen, die Reduzierung von Lohnkosten oder subventionierte Praktikumsverträge vorstellen. In jedem Fall dürfe man nicht riskieren, „noch eine Gruppe von Neuankömmlingen in unserer Gesellschaft zu verlieren“. Dabei sei Belgien in Bezug auf seine Möglichkeiten gar nicht schlecht aufgestellt. „Wir haben die Ressourcen! Wir müssen es einfach schaffen, andere Schwerpunkte setzen“, so De Vos. Damit die Fehler der Vergangenheit nicht bei der nächsten Generation wiederholt werden.  „Es ist noch nicht zu spät“, sagt er energisch, „wir müssen es nur endlich tun. Let’s do it!“. Leitartikel Meinung

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