"Mama hat kein Geld"
Wie Kitas mit Kinderarmut umgehen
Kinder aus armen Familien haben nicht nur weniger Geld. Sie haben oft auch schlechte Zähne, verhalten sich unsicher und bewegen sich tollpatschiger. Kitas sind die erste Instanz, die dagegen etwas tun können. Doch dafür braucht es Geld.
Von Leonore Kratz Dienstag, 11.04.2017, 4:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 18.04.2017, 17:43 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Dass an der Geschichte von Linas Mutter etwas faul ist, merkt Erzieherin Nicole Gevers erst später. Als Lina mit einem Jutebeutel in die Janusz-Korczak-Kindertagesstätte in Hannover kommt, erzählt die Mutter ihr, sie habe Linas Rucksack nicht finden können. Gevers, stellvertretende Leiterin der evangelischen Einrichtung, vergisst den Vorfall. Die Janusz-Korczak-Kita liegt in einem sozial schwachen Wohngebiet. Von den insgesamt 54 Kindern haben 80 Prozent einen Migrationshintergrund, die Hälfte kommt aus armen Familien.
Auch Lina. Als sie Monate später immer noch mit dem Jutebeutel herumläuft, fragt Gevers die Dreijährige, warum sie keinen neuen Rucksack bekomme. Die Antwort ist kurz und nüchtern: „Mama hat doch kein Geld.“ Kita-Leiterin Karin Adelmann kennt viele solcher Geschichten. Wenn zu Hause das Geld fehle, zeige sich das nicht nur am Jutebeutel, berichtet sie. „Am mitgebrachten Essen merken wir die Armut stark.“ Viele Kinder würden für das Frühstück nur mit einer Milchschnitte ausgestattet. Es gebe aber noch mehr Anzeichen: schlechte Zähne, unsicheres Sozialverhalten oder sprachliche Schwierigkeiten. „Und viele Kinder sind nicht in der Lage, selbst zu laufen, und sind total tollpatschig.“
Migranten nehmen Angebote seltener wahr
Für die Osnabrücker Bildungsexpertin Renate Zimmer ist das kein Zufall. Das Bewegungsangebot von Baby-Schwimmen bis Eltern-Kind-Yoga sei heute sehr groß. „Kinder aus sozial benachteiligten oder Migrations-Familien nehmen diese Angebote aber weniger wahr“, erläutert Zimmer. Vielen Eltern fehle das Geld, manche hielten Bewegung nicht für wichtig und bevorzugten den Fernseher. „Aber koordinative Fähigkeiten können sich nur entwickeln, wenn ein Kind klettern, hüpfen oder balancieren darf.“ Kinder, die nicht aktiv sind, trauen sich Zimmer zufolge weniger zu, sind weniger neugierig und nehmen öfter eine Vermeidungshaltung an.
Ilse Wehrmann fordert schon seit Jahren mehr Geld für die Ausbildung von Pädagogen und Qualitätskontrollen in Kindergärten. „Das Thema Kinderarmut haben wir einfach weggeschoben und damit natürlich keine Chancengerechtigkeit geschaffen“, kritisiert die Bremer Vorschulexpertin. Jedes Jahr fehlten in Deutschland zehn Milliarden Euro im frühkindlichen Bereich. Wehrmann fordert, dass Deutschland mindestens ein Prozent des Bruttosozialprodukts in frühe Bildung investiert. Derzeit seien es nur 0,6 Prozent. „In keinem anderen Land ist die Entwicklung von Kindern noch so abhängig vom Geldbeutel ihrer Eltern.“ Die wenigsten Eltern handelten böswillig. Ihnen fehlten schlichtweg Zeit, Kraft, besseres Wissen und Geld.
Bemühen um Chancengleichheit
In der Janusz-Korczak-Kita bemühen sich 15 feste Mitarbeiter sowie zusätzliche Logopäden, Ergotherapeuten und Musiklehrer um Chancengleichheit. Denn in einem sind sich alle Bildungsexperten einig: In den ersten sechs Jahren werden die entscheidenden Grundlagen für die kindliche Entwicklung gelegt. „Wir kochen hier jeden Tag frisch und essen gemeinsam“, betont Leiterin Adelmann. Die Kinder lernen, richtig Zähne zu putzen. Sie erhalten Sprachförderung und Musikunterricht. „Und wir gehen jeden Tag in die Natur.“
Nach Ansicht von Renate Zimmer übernehmen Kitas eine unersetzliche Arbeit. Die Einrichtung sei die erste Instanz, die Entwicklungs- oder Bewegungseinschränkungen der Kinder ausgleichen könne. Die Erzieher könnten außerdem auf die Eltern einwirken und sie über Familienaktivitäten im Freien oder gesunde Ernährung aufklären: „Das sind Dinge, die Kindern sehr schnell vermittelt werden und dann zu einem ureigenen Bedürfnis für sie werden können.“ (epd/mig) Leitartikel Panorama
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