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Zwei Meinungen

Philosoph gegen deutsche Leitkultur, Soziologe dafür

Nach Ansicht des Philosophen Jürgen Habermas würde eine Leitkultur gegen die Verfassung verstoßen. Niemand dürfe gezwungen werden, jemandem die Hand zu geben. Der Soziologe Koopmans ist anderer Meinung. Zur Leitkultur gehöre beispielsweise das Schämen für den Holocaust.

Donnerstag, 04.05.2017, 4:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 07.05.2017, 12:35 Uhr Lesedauer: 2 Minuten  |  

Eine deutsche Leitkultur wäre nach Ansicht des Philosophen Jürgen Habermas nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Eine liberale Auslegung der Verfassung verlange „die Differenzierung der im Lande tradierten Mehrheitskultur von einer allen Bürgern gleichermaßen zugänglichen und zugemuteten politischen Kultur“, schreibt Habermas in einem Gastbeitrag für die in Düsseldorf erscheinende Rheinische Post. Deren Kern sei die Verfassung selbst. Die Thesen von Innenminister Thomas de Maizière (CDU) über eine deutsche Leitkultur hätten ihn erstaunt, schreibt der 87-jährige Habermas.

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„Keine Muslima darf dazu genötigt werden, beispielsweise Herrn de Maizière die Hand zu geben“, erklärte der emeritierte Professor für Philosophie und Soziologie. Allerdings müsse die Zivilgesellschaft von eingewanderten Staatsbürgern erwarten, dass sie sich in die politische Kultur einleben, auch wenn sich das rechtlich nicht erzwingen lasse.

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„Die Eingebürgerten können genauso wie die Alteingesessenen ihre eigene Stimme in den Prozess der Fort- und Umbildung dieser Inhalte einbringen“, betonte Habermas. Versuche der rechtlichen Konservierung einer Leitkultur widersprächen nicht nur dem liberalen Grundrechtsverständnis, sondern seien auch unrealistisch.

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Soziologe Koopmans hält Leitkultur-Debatte für notwendig

Demgegenüber hält der Integrationsforscher Ruud Koopmans die Leitkultur-Debatte für notwendig. „Nicht nur Deutschland, jedes Land der Erde braucht eine Leitkultur, und die stabilen Staaten haben auch alle eine nationale Kultur“, sagte Koopmans der Die Welt. Allerdings beanspruchten „die Gegner der Leitkultur in der Öffentlichkeit die moralische Deutungshoheit und können die Befürworter erfolgreich entweder als rechts abwerten oder lächerlich machen“, sagte der Soziologe.

Für den in Berlin lehrenden niederländischen Professor ist „etwas ganz spezifisch Deutsches der Umgang mit der Vergangenheit. Das historische Erbe des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust, das ist deutsche Leitkultur.“ Man könne „nicht deutsch sein, ohne sich für den Holocaust zu schämen“. Es gebe Einwanderer, die als Deutsche behandelt werden wollten, aber mit dem Holocaust nichts zu tun haben wollten, weil es ja nicht ihre Vorfahren gewesen seien.

Das hält Koopmans für eine falsche Haltung: „Wenn sie sich antisemitisch äußern oder Israel das Existenzrecht absprechen, können sie nicht gleichzeitig beanspruchen, als Deutsche behandelt zu werden.“

Bundesinnenminister De Maizière hatte in der Bild am Sonntag einen Zehn-Punkte-Katalog zur deutschen Leitkultur veröffentlicht. Darin schreibt er: „Über Sprache, Verfassung und Achtung der Grundrechte hinaus gibt es etwas, was uns im Innersten zusammenhält, was uns ausmacht und was uns von anderen unterscheidet.“ Der Minister hob darin unter anderem soziale Gewohnheiten sowie die Bedeutung von Bildung, Kultur und Religion hervor. Der Beitrag stieß auf breite Kritik. (epd/mig) Aktuell Feuilleton

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  1. Michael Klein sagt:

    Ich bin Jahrgang 1960 und empfinde keine Scham gegenüber dem Holocaust, aber ich emmpfinde ein Gefühl der Verantwortung, alles aber auch alles dafür zu tun, um einen nochmaligen Holocaust zu verhindern, ob es nun gegen Juden, Muslime, Homosexuelle, Romas, Sintis und Flüchtlinge aus allen LÄndern geht. Diese Verantwortung kann sich kein Deutscher, der nach 1945 geboren ist entziehn.
    Scham empfinde ich gegenüber der menschenverachtenden Flüchltingspolitik in Deutschland, dass seit Jahren hier eine regelrecht faschistoide Abschiebepolitik stattfindet, dass das ohnehin schon stark eingeschränkte Asylrecht in den vergangenen 12 Monaten noch zweimal verschärft worden ist, dass Abschiebungen in die Balkanländer, nach Afghanistan und nach Syri9en gesetzlich durchgeführt werden. Scham empfinde ich, dass eine Terrororganisation wie die NSU mehrere Jahre unter den Augen unsereres Staates jahrelang mordend durch Deutschland reisen konnte. Und Scham empfinde ich über den Opportunismus und das Desinteresse vieler meiner Landsleute gegenüber dem immer stärker aufkommenden Rechtsruck in unserem Land!

  2. Pingback: Angelika Beer » De Maizière mit „Leitkultur für Deutschland“ auf Stimmenfang

  3. karakal sagt:

    Als von herkunftsdeutschen Eltern geborener Deutscher lasse ich mir von niemandem meine Leitkultur vorschreiben, auch wenn diese sich nicht überwiegend mit der Kultur meinesgleichen decken sollte. Solange der Begriff „Leitkultur“ dazu mißbraucht wird, unter seinem Deckmantel Menschen bestimmter Herkunft assimilieren anstatt integrieren zu wollen, ziehe ich es vor, ihn „Leidkultur“ mit d zu nennen, da er so angewandt, vielen Menschen zumindest psychisches Leid verursacht.

  4. Zoran Trajanovski sagt:

    Das es erneut hier zu Lande mit Leitkultur los geht macht mich stutzig. Norbert Elias in seinen „Studien über die Deutschen“ schreibt, das Wort Kultur im Kern eine apolitische oder vileicht sogar antipolitische Stoßrichtung, die symptomatisch war für das wiederkerende Gefühl deutscher Mittelklase-Eliten, das Politik und Staat den Bereich ihrer Unfreicheit und Demütigung, die Kultur den Bereich ihrer Freiheit und ihre Stolzes representire. So Elias als Soziologe, der aus Deutschland vertriben war und seine Muter in Auschwitz ermordet wurde.
    Die Leitkultur in Deutschland ist Ausdrucksform nach Machtwille und Macht ist auch Geist.
    Mehr als 20 Jahren wird von Geistigefürer in Deutschland Stimmungsmache praktiziert.
    Als produkt solchen Simmungsmache ist das Rassistische b.w. Menschenfeindliche Hetschende Zeitgeist zu stande gekommen.
    Ermordung von Migranten, kontinuierliche Soziale Ausgrenzung, Verarmung……
    Strukturelle Rassismus bei Organen des Polizei, sogenante V-Leute, Justizie, und vieles mehr, bis Existirung von sogenanten tieferen Staat, wie die Ex-Integrationsministerin sich mal geäußert hatte sind durch Deutsche Kultur zu stande gekommen.
    Darüber muss Debatirt werden. Wo Deutsche Humanismus pledirt wird sind Bestialische Morde nicht weit entfernt; Weimarer-KZ.
    Deutsche Kultur ohne Agresiwes verhalten ist kaum denkbar.
    Man darf sich deshalb nicht einschüchtern lassen.