„Immer nur minimale Aufklärung“
NSU-Untersuchungsausschuss bescheinigt Behörden systematische Fehler
Deutliche Worte hat der 2. NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages in seinem Abschlussbericht gefunden. Er wirft den Sicherheitsbehörden systematische Fehler vor. Besonders die hessischen Behörden stehen in der Kritik. Das Menschenrechtsinstitut fordert Umsetzung des 1. NSU-Berichts.
Dienstag, 27.06.2017, 4:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 02.07.2017, 18:04 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags kritisiert „in der lückenhaften Aktenvorlage des Landes Hessen eine erhebliche Beeinträchtigung“ seiner Aufklärungsarbeit. Zudem hätten hessische Ermittler nach dem Mord an Halit Yozgat am 6. April 2006 in Kassel auch einen „nicht reparablen“ Fehler im Umgang mit dem damals verdächtigen Verfassungsschutz-Beamten Andreas Temme gemacht, berichtet die Frankfurter Rundschau. Die Zeitung bezieht sich auf den zweiten Abschlussbericht des Gremiums, der vergangene Woche Donnerstag beschlossen wurde und ihr vorliegt.
Die schweren Vorwürfe des Bundestages waren am Montag auch Thema im Hessischen Landtag. Dort stellte sich der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) den Fragen der Abgeordneten des NSU-Untersuchungsausschusses des Landtags und wies die Vorwürfe zurück. In seiner ganztägigen Anhörung ging es am Montag vor allem um den Umgang mit dem Verfassungsschützer Andreas Temme, der seinerzeit kurz vor oder während des Mordes in dem Internetcafe war.
Bouffier verweigerte Aussagegenehmigung
Dass er als damaliger Innenminister den V-Leuten Temmes keine Aussagegenehmigung bei der Polizei erteilte, begründete Bouffier erneut mit der Sorge um eine Enttarnung von dessen Quellen aus dem islamistischen Bereich und dem Bemühen, kurz vor der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland Anschläge zu verhindern. Der heutige Ministerpräsident machte Erinnerungslücken oder mangelnde Kenntnis des Vorgangs geltend, als ihn Abgeordnete von SPD und Linken mit kritischen Aktenvermerken konfrontierten.
Bouffier begann sein Eingangsstatement vor dem Ausschuss mit Worten des Mitgefühls für die Angehörigen des mutmaßlich vom rechtsextremistischen NSU ermordeten Yozgat. Da er selbst Vater sei, könne er das Leid der Familie nachempfinden. Es sei ihm auch schwergefallen, das von dessen Eltern 2006 erbetene Gespräch auf Anraten der Sicherheitsbehörden abzulehnen.
Opferfamilie Yozgat traut Ministerpräsident nicht
Alexander Kienzle, der Anwalt der Familie Yozgat, kritisiert, seine Mandaten erwarteten „schlichtweg gar nichts mehr“ von der Aussage des Ministerpräsidenten. „Dafür waren die letzten elf Jahre zu frustrierend, zu sehr davon geprägt, dass man von staatlicher Seite immer nur minimale Aufklärung erwarten konnte“, sagte Kienzle der Frankfurter Rundschau. Transparenz werde nur dort hergestellt, wo sie einem selbst nicht schade. Jetzt müssten endlich die gesamten Aktenbestände offengelegt werden.
Yozgats Vater Ismail fordere nach wie vor, die Holländische Straße in Kassel nach seinem Sohn Halit zu benennen, sagte Kienzle. Ansonsten sei die Familie Yozgat seit Beginn des Verfahrens sehr zurückhaltend mit Forderungen an den Staat gewesen. Sie wolle kein Geld, fordere aber eine Aufklärung des Verbrechens und Maßnahmen für die Zukunft.
Menschenrechtsinstitut: Umsetzung des 1. NSU-Berichts prüfen
Die sind bisher jedoch weitestgehend ausgeblieben. Darauf macht das Institut für Menschenrechte aufmerksam. Sie fordert die Bundesregierung auf, die Umsetzung der Empfehlungen des ersten NSU-Abschlussberichts überprüfen zu lassen.
„Der Abschlussbericht des ersten NSU-Untersuchungsausschusses vom August 2013 sollte der Auftakt für einen weitreichenden Reformprozess in Polizei und Justiz sein. Bislang fehlt jedoch eine unabhängige Untersuchung der tatsächlichen Konsequenzen in der Praxis“, erklärte Petra Follmar-Otto, Leiterin der Abteilung Menschenrechtspolitik Inland/Europa des Instituts. So müsse untersucht werden, ob und wie sich die Arbeit der Strafverfolgung durch Polizei und Staatsanwaltschaft tatsächlich verändert habe.
Defizite bei der Strafverfolgung rassistisch motivierter Taten
Es stelle sich auch die Frage, ob rassistisch motivierte Straftaten in angemessener Weise wahrgenommen und verfolgt würden und ob im Rahmen der Ermittlungen ein angemessener und sachgerechter Umgang mit den Betroffenen erfolge. Zahlreiche Initiativen, Organisationen und Betroffene berichteten immer wieder über Defizite bei der Strafverfolgung rassistisch motivierter Taten und diskriminierendes Handeln durch die Behörden.
Der NSU-Mordserie fielen zwischen 2000 und 2006 mutmaßlich zehn Menschen zum Opfer. Die Aufarbeitung der Taten beschäftigt Justiz und Staatsorgane bis heute. Nebenklägern des Münchener Prozesses erscheint insbesondere die Rolle des Verfassungsschutzmitarbeiters Temme, der unmittelbar vor dem Mord im Café anwesend war, ungeklärt. Dieser gab an, weder einen Schuss gehört noch das Mordopfer beim Verlassen des Cafes gesehen zu haben. Untersuchungen eines Londoner Forschungslabors im Mai belasteten den Ex-Verfassungsschützer. Das Münchener Gericht stufte seine Aussagen bisher als glaubwürdig ein. Auch das erntete von Seiten der Opferanwälte und Experten Kritik. (epd/mig) Leitartikel Panorama
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